Heftige Gemütsbewegungen
Johannespassion: Bach verknüpfte Bibeltext und freie Lyrik
Von Michael von Hintzenstern
In der Karwoche wird in vielen Gemeinden im Norden und Süden der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) Johann Sebastian Bachs »Johannespassion« (1724) aufgeführt. Sie stellt das erste musikalische Großprojekt des Thomaskantors dar, der ein Jahr zuvor sein Amt in Leipzig angetreten hatte. Obwohl sein Anstellungsvertrag festschrieb, dass seine Kirchenmusik »nicht opernhafftig herauskomme, sondern vielmehr zur Andacht aufmuntere«, gelang es dem Komponisten, neue Horizonte zu eröffnen.
Schon im Mittelalter war es üblich, die Passionsgeschichte nach den vier Evangelien an je vier Tagen der Stillen Woche mit verteilten Rollen »abzusingen«. Ein Geistlicher übernahm die erzählenden Partien, ein zweiter die Worte Christi, ein anderer die übrigen Personen. Die Worte der Volksmassen, der turbae, wurden von einem Chor gesungen. Die evangelische Kirche hat diese Tradition fortgeführt. Heinrich Schütz vertonte – ohne eingeflochtene Choräle und Arien – nur den Bibeltext. Doch bald trat die Dichtung an die Stelle der Bibelworte. Eine wichtige Rolle nahm dabei der Hamburger Ratsherr Barthold Heinrich Brockes ein, dessen Libretto »Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus« von Georg Philipp Telemann, Reinhard Keiser und Georg Friedrich Händel vertont wurde. So entstanden Anfang des 18. Jahrhunderts Oratorien, die sich vom genauen Wortlaut der Bibel entfernten und mehr auf die emotionale Rührung der Zuhörer im Konzertsaal abzielten. Die Brockes-Passion entsprach dem Bedürfnis der Zeit nach einer Versenkung in die biblischen Inhalte. So forderte der Musiktheoretiker Johann Mattheson: »Hier allein, nämlich bei dem Gottesdienst, sind gar heftige, ernstliche und höchstangelegentliche Gemütsbewegungen nötig.«
Bach gelang es, Tradition und den Geist einer neuen Zeit miteinander zu verbinden. Er stützte sich auf die Passionsgeschichte, wie sie im 18. und 19. Kapitel des Johannesevangeliums geschildert wird, und fügte passende Choräle ein. Als modernes Element integrierte er eine überschaubare Anzahl an Arien, die sich auf freie religiöse Lyrik und Elemente des Brockes-Textes stützen. Im Fokus stehen fünf Stationen: Gefangennahme im Garten Gethsemane – Jesus vor den Hohepriestern – Prozess vor dem Statthalter Pilatus – Kreuzigung auf Golgatha – Grablegung. Zu den Akteuren gehören der Erzähler (Evangelist), die in indirekter Rede sprechenden Personen (Jesus, Petrus, Pilatus) sowie Gruppen (Volk, Kriegsknechte, Hohepriester), die das Geschehen mit erschütternder Eindringlichkeit vor Ohren führen. Eine Musik voll emotionaler Kraft!
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