DDR-Kirchenverluste # 2
Die All Saints Church Leipzig
In der DDR wurden bis 1988 rund 60 Kirchen auf staatlichen Druck gesprengt. Die wohl bekannteste von ihnen war die Paulinerkirche Leipzig – auch Universitätskirche St. Pauli genannt – im Jahr 1968. Die Serie ruft verlorengegangene Sakralbauten in Mitteldeutschland und darüber hinaus in Erinnerung.
Die All Saints Church zu Leipzig war das anglikanische Kirchengebäude im Bachviertel. Sie hieß auch Church of the Ascension sowie All Saints’ English and American Episcopal Church, eingedeutscht Anglikanische Kirche sowie Angloamerikanische Kirche. Der im Zweiten Weltkrieg beschädigte Sakralbau wurde nach Kriegsende in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) – also noch vor Gründung der DDR – gesprengt.
Geschichte
Im 19. Jahrhundert lebten in der Kultur- und Messestadt Leipzig zahlreiche britische und US-amerikanische Geschäftsleute, Künstler und Studenten. Daher gab es bereits ab 1862 für die anglo-amerikanische Community erste anglikanische Gottesdienste. Anfangs wurden dafür noch die evangelisch-lutherische Thomaskirche am Thomaskirchhof und das Conservatorium der Musik im Musikviertel genutzt. Es wuchs der Wunsch nach einem eigenen Kirchengebäude.
1870 bekam der sächsische Architekt Oskar Mothes den Auftrag, einen Kirchenbau zu planen. Seine Entwürfe für das Bauvorhaben wurden zunächst anderswo verwendet – für die von 1876 bis 1877 errichtete Anglikanische St.-Lukas-Kirche im böhmischen Karlsbad. Ihre Kirchweihe war am 24. Juni 1877, das Bauwerk hat die Zeit bis heute überdauert.
Möglicherweise hat der Bau dieser „eineiigen Zwillingsschwester“ den Baubeginn in Leipzig verzögert. Die Stadt Leipzig überließ der anglikanischen Gemeinde 1883 Baugrund in der Bismarckstraße, der späteren Ferdinand-Lassalle-Straße, am nordwestlichen Ende des Johannaparks.
Dann geschah Ungewöhnliches, dessen Gründe heute unklar sind: Die Verantwortlichen der Kirchengemeinde tauschten dieses Grundstück wenig später gegen das Grundstück der zeitgleich geplanten, evangelisch-lutherischen Lutherkirche an der Ecke Sebastian-Bach-Straße und Schreberstraße.
Im Mai 1884 war feierliche Grundsteinlegung mit dem anglikanischen Bischof für Nord- und Zentraleuropa, Jonathan Titcomb, und Persönlichkeiten der Stadt. Der Kirchenbau wurde mit Unterstützung des britischen und des US-amerikanischen Konsulats verwirklicht.
Im Juni 1885 war die Kirchweihe für die Church of the Ascension – auf Deutsch: Himmelfahrtskirche. Später hieß sie dann All Saints Church – Allerheiligenkirche.
Bauwerk
Mothes orientierte sich bei seinen Plänen am Early English Style, der englischen Frühgotik. Der Grundriss der Kirche war einem lateinischen Kreuz ähnlich. Im Langhaus befanden sich Seitenschiffe. Auf dem Entwurf thronte über dem Kirchenschiff ein hoher hölzerner Dachstuhl.
Die Front an der Sebastian-Bach-Straße war mit einer Fensterrose ausgeschmückt, eine lange Vorhalle schloss sich an den Eingangsbereich an. Ein ursprünglich geplanter Kirchturm am linken Eingangsbereich wurde nicht mehr verwirklicht. Die Kirche hatte eine Orgel, von 1894 bis 1898 war Thomas James Crawford dort Organist.
Erster Weltkrieg und die Zeit danach
Mit Kriegsausbruch 1914 wurden Leipzigs Ausländer aus dem Vereinigten Königreich und den USA als Angehörige der Kriegsgegner zu unerwünschten Personen – sie wurden de facto vertrieben. Die anglikanische Kirchengemeinde löste sich deshalb auf. In der Zeit der Weimarer Republik wurde der Sakralbau von einer deutschen Freikirche, der Pfingstgemeinde „Christliche Gemeinde e. V.“, genutzt.
Bei den alliierten Luftangriffen auf Leipzig vom 4. Dezember 1943 und im Frühjahr 1945 wurde das Gotteshaus ebenso wie andere Bereiche des südlichen Bachstraßenviertels schwer beschädigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es als Materiallager genutzt – somit ließ dessen Beschädigung diese Art von Nutzung noch zu – und dann gesprengt. Offen ist, wer zum Zeitpunkt der Kirchensprengung Eigentümer des Sakralbaus gewesen ist. Das Grundstück war dann viele Jahre eine Brachfläche.
Jüngere Vergangenheit und Gegenwart
Nach der Friedlichen Revolution in der DDR gründete sich 1995 mithilfe der britischen Missionsgesellschaft wieder eine neue Gemeinde englischsprachiger Christen unter dem Namen Leipzig English Church (LEC), die der Church of England zugehörig ist und von der Intercontinental Church Society unterstützt wird.
Das einstige Kirchengelände wurde in den 2000er Jahren in den Bildungscampus Forum Thomanum integriert: Auf der Fläche steht heute die Grundschule forum thomanum.
Koordinaten: 51° 20′ 12,7″ N, 12° 21′ 40,8″ O
Nächste Folge: Nikolaikirche Chemnitz
Quellen und Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/All_Saints_Church_(Leipzig)
(dort auch Verzeichnis der Autoren; Textnutzung entsprechend Creative Commons CC BY-SA 4.0)
Foto:
Die Kirche um 1900, links die Lutherkirche Leipzig auf dem ursprünglich für die anglikanische Kirche vorgesehenen Bauplatz. Aus: „Die Bau- und Kunstdenkmäler von Sachsen. Stadt Leipzig. Die Sakralbauten.“ Deutscher Kunstverlag, München 1995, Bd. 1, S. 784. Gemeinfrei, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9572642
Autor:Holger Zürch |
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