Geier
Geburtstagsgabe (erster Exkurs)
Auch der Geier hat ein paar Minuten Zeit gefunden, seine Gedanken betreffs Martin Luthers niederzuschreiben. Wir lesen sie mit Interesse und Befremden:
Ich bin der Geier. Will mich kurz fassen, denn wir sind grade dabei, einen Riesenhaufen Aas wegzuschaffen. Viel Arbeit! Ihr wisst ja, unsereins nährt sich von Aas, - es wird durch uns alles, was lange schon tot ist und deshalb stinkt, vollständig verwertet. "Verwertet" - sag ich ganz deutlich, weil es Euch immer so um Werte geht.
Der Haufen, um den es sich seit Langem dreht, ist die abendländische Theologie. Die zu entsorgen - wisst Ihr überhaupt, was das für eine Leistung ist? Aber wir haben einen großen Fürsprecher bei dieser Sisyphosarbeit. Martin Luther. Der hat das auch schon mal probiert. Und fast geschafft. Was hat der Mann für Mut besessen!
Den unendlichen Knochenfraß der Reliquien und Partikel, Fetzen und Splitter - weg damit. Hat er sich getraut! Luther ist so was wie unser geistliches Vorbild. Ich verrat Euch was: Jeder Geier hat noch einen zweiten Namen. Entweder Martin, oder Luder - weil wir ja die Welt vom Aas entludern. Luder - so hieß unser Held vordem, sicher wisst Ihr das aus der Schule oder aus den Schmierenheftchen der Gegenreformation, - Luder ist nur ein anderes Wort für Aas. Das dazu.
Oder besser gleich Schluss. Kurz war meine Rede in Briefform an Euch. Aber präzise. Schon spreite ich beide meine Flügel aus und schwebe davon. Halte mich kreisend und stets aufmerksam auch ob Euern Häuptern! Passt nur auf, wenn Ihr predigt und schreibt. Nicht, dass ich mich noch auf Euch stürzen muss, weil Ihr tote Worte absondert. Ein Geier kennt keine Gnade - wenn was vorbei ist, ist es vorbei und wird abtransportiert.
G. Adler, der Geier
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