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zweites Zwischenstück
Altes und Neues von Globnich (23)

Globnichs Reise an den Ort letztendlich immer währender Verzückung sollte also noch einige abenteuerliche Umwege nehmen. Und deshalb wurde der ehemalige Staatsbürgerkundelehrer  eben nicht beim Gesang der schönen Frederique in den Schoß Vater Abrahams getragen, sondern musste erst einmal hinab in den Abgrund fahren. So, wir alle. Und so, wie es sogar Christus nicht erspart geblieben sein soll: Niedergefahren zur Hölle.  Genau diesen Aufenthalt galt es jetzt zu beschreiben.

Leberecht hatte inzwischen längst begriffen, dass Dante Alighieri seine Hölle, den Läuterungsberg und das Empyreum als getrennte Orte gedacht haben wollte. Auf diesen Dreh war Leberecht inzwischen auch selber gekommen. Die  vereinigte „Himmelshölle“ des ehemals kleinen Knaben auf dem sächsischen Pfarrhof existierte nur noch als rührende Erinnerung für jenes Buch, an dem der erwachsen gewordene Leberecht nunmehr diszipliniert schreiben würde.

Persephonais Avatarin Gender hatte also mit einem baumwollenen Tuch das NICHT des Globnichschen Entschlafungstages aufgewischt. Danach den Lappen im Eimer gespült, ausgewrungen und mit demselben Wischwasser auch noch andere Siechenzimmer gesäubert. Das Wasser mit den Resten des NICHTs Globnichs floss in die Kanalisation, ins Klärwerk, in den Ozean und stieg durch die Kraft der Sonne bewegt hinauf in die Wolken – und von dort kam das NICHT in Tau und Regen wieder zurück auf die liebe Erde. Nicht, nicht, nicht. Man kann sich gut vorstellen, dass man am Himmelstor die Sache mit den solcherart potenzierten NICHTs nicht unkommentiert lassen wollte. Vor dem Forum der Ewigkeit ist nämlich auch das alles gültig, was man zu sagen beabsichtigt hatte - aber aus irgendwelchen Gründen es zu sagen nicht mehr Gelegenheit fand. Vor dem Forum des Himmels wird also nicht nur das für gültig anerkannt, was man gesagt - sondern auch das, was man nicht gesagt hat. So ernst ist es Leberecht Gottlieb mit dieser besonderen Angelegenheit. Da kannte er nichts. Da ist er ganz der kleine Leberecht geblieben. Und das sollte Kurt Globnich nun zu spüren bekommen.

Leberecht entschloss sich dazu, seine Geschichte so fortzuführen, dass alle Welt erfahren sollte, wie Kurt Globnich an das Himmelstor klopfte und von dort wieder fortzugehen verdammt ward. Übrigens und obwohl alles nur elendes Geschreibsel auf elektronischem Papier, auf Datenpergament darstellt, Kurt Globnich war auch in der Wirklichkeit tatsächlich gestorben. Requiescat in pacem. Irgendwann im Jahre 2011 war es passiert. In einer Hospizkammer ist auch ihm das für uns alle irgendwann Unausweichliche - möge der Tag fern sein - geschehen. Und zwar, wie weiter oben bereits beschrieben, auf genau diese wunderbare Art und Weise. Und auch alles andere, was hier berichtet werden wird, ist tatsächlich und ausnahmslos wahr. Was geschrieben ist, das ist geschrieben. Indem wir darüber etwas aufschreiben, verändert sich das längst Geschehene durch unser Schreiben. Das ist das Wunder des Wortes. Erst unmerklich, dann merklich, dann verschwinden Hügel und Berge und die Täler gleichen sich aus. Auch darin liegt der Sinn aller Bitten für die Toten, wenn es heißt: “Kürze ihre Wartezeit!“ Über die näheren Umstände weiß fast keiner etwas, Leberecht schon. Und Gott - der natürlich auch.

„Der alte Globnich ist übrigens tot“ hatte einer beim Klassentreffen in Pottsitz wie nebenbei bemerkt. „Ja der Globnich – weißt du noch?“ – „Globnich – wer war das noch mal … Ach, der Stabülehrer. Na, der war doch auch schon alt, oder?“ Nächstes Thema. Keinen berührte der Tod Globnichs besonders, nur Leberecht. Am frühen Morgen – das Klassentreffen dauerte mit reichlicher Teilnahme an Alkohol und Ähnlichem bis in die Dämmerung des neuen Tages hinein – am frühen Morgen legte sich Leberecht zu spätem Schlummer nieder. Jedoch fand er nicht in die Arme des süßen Schlafes. Morpheus nahte sich nicht. Da legte der Schlaflose auf, was er immer auflegte, wenn die Müdigkeit so groß angewachsen, dass sie den Schlaf verhinderte: Das Preislied aus Wagners Meistersingern. Leberecht hatte über die Jahre eine umfangreiche und wertvolle Plattensammlung zusammengebracht. Und so sang Franz Völker in das Rosarot des beginnenden Junimorgens mit einer kratzigen Patinastimme von dem Paradiesgarten. Und Leberecht Gottlieb wurde beim Zuhören sehr nachdenklich zu Mute:

“Morgenlich leuchtend im rosigen Schein,

von Blüt’ und Duft geschwellt die Luft,

voll aller Wonnen,

nie ersonnen,

ein Garten lud mich ein,

dort unter einem Wunderbaum,

von Früchten reich behangen …“

Der altböse Feind Globnich also tot? Ist man damit selber nicht auch wieder ein kleines Stückchen mehr gestorben, wenn der Feind abhanden kam? So ähnlich dachte der ehemalige Schüler Leberecht des verblichenen Lehrers Kurt, welcher so etwas wie eine negative Vaterfigur gewesen sein mochte. Mystisch war das Ganze - mystisch jawohl. Und nun will Leberecht dem Manne Kurt Globnich ein unvergessliches Denkmal setzen, und wir sollen seinen Weg durch die Hölle verfolgen können, den Weg der recapitulatio omnium, nichts anderes nämlich ist dieser Weg - eine Wiederherstellung alles negativ Gewesenen durch Erinnerung, wenn auch unter positiveren Vorzeichen des versuchten Verzeihens. Leberecht schickt Kurt auf diesen verheißungsvollen und zugleich gefährlich wirkenden Weg. Und ist als Autor dieses Weges zugleich so etwas Ähnliches wie der Begleiter hinab zu den allerdunkelsten Schicksalsverklumpungen.

Im Halbdämmer der Wagnerschen Harmonien entschied Leberecht bei sich selbst, er würde es Globnich in den nächsten Kapiteln zuerst recht schlecht ergehen lassen wollen. Danach etwas besser – und zum Schluss sogar einigermaßen gut. Das Ganze solle in der Zeit zwischen Totensonntag und dem Beginn der Adventszeit spielen, sieben Tage lang. Solange hatte auch die Schöpfung gedauert. Globnich müsse wie ein moderner Ebenezer Scrooge genau alles das fühlen, was er Leberecht in den Momenten tiefster Demütigung hatte erleiden lassen wollen. Als der garstige Lehrer ihn nämlich, den unschuldigen Schüler, vor der gesamten Klasse vorgeführt und gedemütigt.

Gerade aber als Leberecht sich entschlossen hatte, den ehemaligen Staatsbürgerkundelehrer auf diese Weise zu blessieren, hielt er inne und blickte zum Fenster hinaus. Es hatte ein Geräusch gegeben. Und Leberecht sah, wie dort draußen in der Morgendämmerung ein Personenkraftwagen hielt, dessen Fahrer ausstieg, eine Tasche vom Beifahrersitz an sich raffte und in den kleinen Verkaufsladen hinein ging, obwohl die Öffnungszeit desselben noch gar nicht gekommen war. Nach etwa einer Minute kam der Fahrer des Automobils wieder heraus, setzte sich in seinen Wagen und fuhr davon. Die Tasche war beim Hineingehen schlaff und leicht gewesen. Beim Herauskommen aber war sie schwer und angefüllt mit irgendwelchen Dingen. Wer war dieser Irgendjemand? Was für ein Schicksal spannen die Unsichtbaren diesem anonymen Einkäufer mit der Tasche? ja - kannte man denn überhaupt einen einzigen Menschen auf dieser verrückten Welt? Und durfte man überhaupt jemanden demütigen … Und erst recht einen, der schon in der anderen Welt - womöglich in der Helle angekommen war und sich nicht mehr wehren konnte? Eigentlich wohl doch eher nicht ... Es galt ja - trotz alledem - immer in gewissem Maße das bekannte und gestrenge “Nisi bene de mortuis.“ Dementsprechend hätte man von den Verblichenen nur gut zu reden, erinnert sich Leberecht an die Lateinstunden in dem muffigen Raum des theologischen Seminars seiner an der Saale gelegenen Universitätsstadt, daselbst er - wie wir längst wissen - einige Jahre zugebracht hatte, um auf den Berufsweg seiner Ahnen zu gelangen, welcher Weg seit sechs Generationen von dort aus in strenger Regelmäßigkeit abgezweigt war - und zwar in die Bahn der Landgeistlichen im ehemaligen Kursachsen, späteren Preußen und dann in die von Magdeburg und später Erfurt aus gelenkte Mitteldeutsche Landeskirche.

Leberecht war inzwischen vierundfünfzig Jahre alt geworden. Und das bedeutete, dass er bereits mehr als die Hälfte der ihm vom Himmel zuerkannten Lebenszeit zurückgelegt hatte. Vater von mehreren Kindern war er geworden, hatte die famose Sylvia für sich gewinnen dürfen, das Theologiestudium absolviert, lebte immer noch von den philosophischen Finessen des Weischedelschen Gottesbeweisbuches - von dem noch berichtet werden soll - kannte sich wie der Fuchs auf dem Hühnerstall in der Geistesgeschichte aus, und war dann irgendwann irgendwie neben seinem Pfarramt so eine Art Liebhaber kleinerer Geschichtlein geworden, hielt sich mit diesen Texten mental und zur Selbsterheiterung einigermaßen über Wasser, war relativ gesund und hatte sogar ein paar sehr gute Freunde. Da ging es für ihn eigentlich nicht an, den alten Lehrer Kurt posthum zu demütigen. Zusätzlich noch stammte er schließlich aus der Welt des Deutschen Evangelischen Pfarrhauses. Und - das verpflichtet zu weiser Großzügigkeit und Bereitschaft zu Nachsicht und Vergebung..

Jedoch - dieser Globnich - der sollte durchaus bereuen, was er in seinem Leben alles Schlimmes getan. Wie Papierflieger wollte Leberecht Kapitel um Kapitel seines Buches dem Bösewicht nachsenden. Und solche Post mochte dann den in die Helle abgetanen Lehrer sowohl erfreuen als auch nachträglich schon wenigstens peinlich berühren. Dass gerade ein ehemaliger Schüler, welchen der Lehrer mit am meisten gequält, jetzt und auf diese Weise durch die Spitze seines Fingers dem Helleninsassen Linderung verschaffen würde, wie weiland Lazarus dem reichen Mann in der höllischen Flamme des bekannten Gleichnisses, das war es - darauf kam es an. Alles kam darauf an.

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mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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