D i e t e r

IM ZEN

Einst weilte bei Meister Li im fernen Kyoto  ein europäischer Gast auf Besuch, der dem Geheimnis des Zen auf die Spur kommen wollte. Von Beruf Kunstmaler hatte der Mann bereits einige Preise errungen. Und die Preisgelder, welche er sich ermalt hatte, machten es ihm nun möglich, „auf einige Jahre im Zenkloster zu sein.“

Meister Li sollte ihn in die hohe Kunst des Bogenschießens einführen. Der Meister beherrschte dieselbe und auch die wirklich richtige und einzige Art Satori zu sitzen. Manches offenbarte er seinem europäischen Schüler. Dinge, von denen man noch gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab.

Eines Morgens sagte der Schüler (wir wollen ihn, damit er anonym bleibt, Dieter nennen): „Meister, schau, hier habe ich versucht, jenes gewisse ES zu malen, welches alles gibt, wenn wir 'ES GIBT ...' sagen. Jetzt aber zeige mir noch, wie ich zusätzlich das malen kann, was es selber gar nicht gibt. Also jenes ES, das nichts gibt."

Meister Li gab Dieter folgenden Auftrag: „Schaffe ein Blatt frisches Seidenpapier herbei, das noch feucht ist. Und ein Holzkohlestück, welches noch glüht.“ Dieter lief davon und brachte das Gewünschte. Li spannte das feuchte leere Blatt auf Dieters Malbrett und gab ihm die glühende Kohle in die linke Hand. Dann sagte er: „Male einen Kreis. Nicht auf dieses Blatt. Und nutze diese Kohle nicht. Sonst störst du.“

Lange stand Dieter mit der rotglühenden schwarzen Kohle in der Linken vor dem Weiß des tropfnassen Seidenbogens - bis er schließlich in Verzückung fiel. Spät am Abend weckte ihn der Meister aus tiefer Versenkung. Die Kohle war erkaltet und der Seidenbogen bauschte sich knisternd im aufkommenden Nachtwind.

Am anderen Morgen reiste Dieter zurück nach Europa. Dort - irgendwo im Wolfserwartungsgebiet brandenburgischen Ödlands eröffnete er jene kleine Malschule, von welcher man bis heute nichts weiß. Einen Schüler nimmt Dieter jährlich auf. Und alle Schüler nennt er Dieter. Rätselhaft, aber das hat nichts zu bedeuten …