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im Spiegel
Sehen und Gesehen-Werden

Genesis 16,7 - am Auge der Brunnenquelle 
(וַֽיִּמְצָאָ֞הּ מַלְאַ֧ךְ יְהוָ֛ה עַל־עֵ֥ין הַמַּ֖יִם בַּמִּדְבָּ֑ר עַל־הָעַ֖יִן)
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  • Genesis 16,7 - am Auge der Brunnenquelle
    (וַֽיִּמְצָאָ֞הּ מַלְאַ֧ךְ יְהוָ֛ה עַל־עֵ֥ין הַמַּ֖יִם בַּמִּדְבָּ֑ר עַל־הָעַ֖יִן)
  • hochgeladen von Matthias Schollmeyer

Trotz aller verständlichen Begeisterung darüber, wie eine Magd über ihre Herrin zu triumphieren vermochte, sollten wir nicht vergessen, dass es in Genesis 16,13 um etwas ganz Anderes geht - und zudem verschiedene Übersetzungen jenes Textes lesbar sind, welcher sich 2023 zur Losung des Jahres hat aufschwingen dürfen. 

Für viele ist es von besonderem Reiz, dass bereits seit Wüstentagen eine werdende Kindsmutter sich der uralten Frage nach dem Gottesrätsel hat widmen wollen - oder müssen. Denn Hagar - so heißt sie - ist in Todesnot. Von der Gottheit höchstpersönlich angesprochen - obwohl eigentlich „nur” ein Engel mit ihr redete, soll sie geäußert haben: „Du bist ein Gott, der mich sieht!” So steht es jetzt jedenfalls auf Plakaten, Spruchkarten und Lesezeichen mit bunten Farben gedruckt.

Sehen bzw. gesehen werden ist die Frage. „Frauen möchten gern gesehen werden“, sagt man - wahrscheinlich deshalb, weil man sie gern sieht? Was Genesis 16 meint, führt aber viel, viel weiter. Zum einen, weil behauptet wird, dass Gott Personen ansieht, die selber die Gottheit nicht sehen können. Wie das geht - darum ging es schon immer: Dass wir glauben wollen, wie etwas uns, die wir dieses etwas nicht sehen können, selber doch sehen kann und ansehen will. Der besonderen Philosophie des anglikanischen Bischofs zufolge, der diesen Gedanken bis ins Unendliche zugespitzt hat, sind wir Menschen nur deshalb und solange existent, weil und wenn Gott uns anschaut. Esse est percipi - Sein ist Wahrgenommen-Werden (George Berkeley, 1685 -1753).

Weiter noch! Nicht alle Übersetzungen übertragen das hebräische אַתָּ֖ה אֵ֣ל רֳאִ֑י mit Variationen eines „Du bist der mich sieht.” Buber hat zum Beispiel das ganz andere: „Du Gott der Sicht!” Moses Mendelssohn: „Du bist ein sichtbarer Gott!” Die alte Elberfelder: „Du bist ein Gott, der sich schauen läßt!” Einige Übersetzer lassen zudem Hagars Namenspekulationen nicht von solcher Gewissheit begleitet sein, wie Luther sie in Verfolg von Vulgata und Septuaginta formulieren wollte („Du Gott siehst mich.”) Sondern eher als vage Frage auftauchen. Zum Beispiel die Gute Nachricht: »Habe ich wirklich den gesehen, der mich anschaut?« Die neue Elberfelder: „Habe ich nicht auch hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat?“ Martin Buber: „Sah auch wirklich ich hier dem Michsehenden nach?” Moses Mendelssohn: „Habe ich denn auch etwas gesehen, als mein Sehender mir den Rücken zugewandt?”

Es ist hier vielleicht auch gar nicht so wichtig, ob jemand Gott sieht, ob Gott jemanden sieht, anschaut oder selber ansichtig wird. Gerade die Unentschiedenheit zwischen Sehen und/oder Gesehen-Werden, das Schwanken zwischen Anschauung Gottes bzw. Angeschaut-Werdens durch die Gottheit ist die einzig angemessene Möglichkeit, die Gottesbegegnung zu beschreiben. Das Ganze gewinnt zusätzliche auch dadurch, weil mit Hagar eigentlich nur geredet wird - sie selber aber nicht nur hört, sondern das Gehörte offenbar in eine besondere persönliche Sicht transformiert, welche das Gefühl des Angeschaut-Werdens auf den Weg bringt. In Wagners Parsifal wird aus Raum Zeit. Und hier wird aus Wort Blick.

Mit der Magd Hagar (der Name bedeutet ‚Die Fremde‘) redet übrigens nicht der HERR, sondern der Engel des HERRN. Der Text aber behauptet von Hagar, dass sie meint,  G o t t hätte mit ihr geredet. Mit Abraham redet Gott, der HERR, zwar öfter direkt. Zu Hagar jedoch spricht der Engel des HERRN. Das ist schon ein Unterschied, der bei der Analyse des Textes zumindest latent präsent bleiben sollte.

Summa summarum - eine weitere Übersetzung sei nun vorgeschlagen. In aller Bescheidenheit sei sie dem Kranz jahrtausendealter Überlegungen hinzugefügt. Könnte sie nicht etwa folgendermaßen lauten:

Und sie nannte den HERRN, 
der zu ihr redete, 
beim Namen: ‚Du - Spiegel.‘ 
Denn sie sagte: 
'Hier habe ich den geschaut, 
der nach mir sah.'”

Der Spiegel sieht uns - und dieses Nach-Uns-Sehen des Spiegels wird von uns gesehen. Diese Variante (Spiegelvariante) ist insofern nicht ganz uninteressant, weil die gesamte Szene Genesis 16 an einer Quelle oder einem Brunnen stattfindet, der am Schluss der Begebenheit genau in der Mitte zwischen zwei Orten lokalisiert wird, deren Namen man nicht ganz unberechtigt mit ‚Heilig‘ und ‚Reinheit‘ wird übersetzen können. Der reine Spiegel ist die heilige Mitte zwischen dem Sehenden und dem Angeschauten. Bei dieser dünnen Wand ist die Stelle der Segensquelle, auf der sich Bild und Bild spiegelnd begegnen. Denn das Licht des Spiegelbilds sieht dich - und du dein Bild. Reines Sehen im und als Gesehen-Werden. Noch dazu, weil im Hebräischen das Wort für ‚Quelle / Brunnen‘ und das Wort für das sehende ‚Auge‘ ein und dasselbe sind - עין (in Gen 16,7 zweimal verwendet).  

Im Auge des Brunnens spiegelt sich der Himmel, wo man seit alters her die Wohnsitze hoher Gottheiten ansiedelt. Und diejenigen, die in die Brunnen schauen, sehen sich dort unten selbst - vor dem Hintergrund des hohen Himmels gespiegelt (vgl. John Bauers Gemälde). Anders gesagt - der Himmel hinter einem sieht uns - und macht, dass man sich dort in der Tiefe selber vor dem unendlichen Horizont des Hohen erschauen kann.

Ein solches Erlebnis ist nichts anderes als die Erfahrung der Identifikation mit sich selbst vor einem größeren Horizont. In der Todesnot der exemplarischen Gefahrensituation Hagars ein ähnliches Erlebnis, wie es Christus in der Wüste zugeschrieben wird (Mt4). Man begegnet sich selbst - und ist danach eine andere Person als vorher.
Insofern also zwar nur ein Engel zu Hagar redete, „sieht“ diese sich selbst von dem HERRN des Engels angesprochen - und damit erschaut sie die Gottheit in jener ganz besonderen Sicht, welche Martin Buber zu formulieren versucht hat. Im Spiegel …

Genesis 16,7 - am Auge der Brunnenquelle 
(וַֽיִּמְצָאָ֞הּ מַלְאַ֧ךְ יְהוָ֛ה עַל־עֵ֥ין הַמַּ֖יִם בַּמִּדְבָּ֑ר עַל־הָעַ֖יִן)
John Bauer -Spiegel
Autor:

Matthias Schollmeyer

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