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Andacht Neues Jahr 2022
Auf weitem Raum stehen

Lausitz - gefluteter Tagebau Berzdorf | Foto: www.pixabay.de
  • Lausitz - gefluteter Tagebau Berzdorf
  • Foto: www.pixabay.de
  • hochgeladen von Denise Scheel

Liebe Mitmenschen,

abgerissene Gebäude und beräumte Grundstücke. Anstelle der Gaststätte, findet man jetzt Rasen. Der ganze Friedhof wurde schon in einer ersten Phase in den '60 Jahren das erste Mal umgebettet. Der Glockenturm wird mit dem Kriegerdenkmal ins 7 km entfernte Nachbardorf umziehen. So der Plan. Freiraum und erzwungene Veränderung gehen hier Hand in Hand. Spätestens Ende 2024 soll die Umsiedlung von Menschen und Gebäuden im kleinen Dorf Mühlrose abgeschlossen sein. Es ist der letzte Ort in Sachsen, der dem Kohle-Tagebau weichen soll. Er liegt 26 km von meinem Geburtsort und 33 km von meiner Taufkirche entfernt. Hier stellt sich hautnah die Frage: Schaffen wir den Abschied von der Kohle und einen Neubeginn hin zu alternativen Energien? 

Heute noch leben einige Menschen in Mühlrose. Manche hoffen, dass der Ort doch bleibt, andere freuen sich auf den Umzug in die neuen Häuser, weil sie seit Jahrzehnten die Unsicherheit nicht mehr aushalten. Wer vermitteln will, sitzt schnell zwischen den Stühlen und erhitzten Gemütern. Es gibt ein Kirchencàfe. Alle 14 Tage ein offener Gesprächsraum, denn drüber reden ist wichtig! Mein Kollege Pfarrer Jörg Michel – mit dem wir letztes Jahr auf Gemeindefahrt im Riesengebirge unterwegs waren und so Gott will auch 2022 wieder sein werden - geht dorthin „wo es weh tut“ wie er sagt und ich denke mir: Ja, das sollten wir tun! Dort sein wo Menschen ihre äußere und vielleicht in diesen Tagen vielmehr die innere Heimat verlieren. Wo die Angst um die eigene Sicherheit Raum greift und die Grundfesten im Leben plötzlich in Frage stehen. Sich zu orientieren ist schwer geworden. Die fünfte Coronawelle bahnt sich an und die Fragen stellen sich erneut: Was gibt mir Sicherheit im Leben? Wie komme ich mit Veränderungen zurecht? Welche Veränderungen sind notwendig und welche nicht?

Ich bin in Hoyerswerda geboren und in der Lausitz aufgewachsen. Eine Region, die wie kaum eine andere in Deutschland in den letzten Jahrzehnten massiven Veränderungen unterworfen war. Erst der große Arbeitskräfte Zuzug durch die Kohle, dann die Wende und die Stadt leerte sich. Gebäude wurden in einem unvorstellbaren Maße zurück gebaut, so dass manche Räume grüner und weiter geworden sind. Manches aber unwiederbringlich Abschied bedeutete. Es wurde experimentiert und eine ganze Stadt auf wie ich finde gute Weise neu erfunden. Auch in der Kirche in Thüringen, in unseren Dörfern, erleben wir einen fortschreitenden Wandel. Strukturen verändern sich. Die Pfarrbereiche wachsen, die Personalressourcen schrumpfen. Gemeinden und Hauptamtliche müssen die kirchlichen Strukturen und Arbeitsweisen neu denken lernen. Netzwerke spannen, das erfordert Willen, Kommunikation, Vertrauen, Zivilcourage und Übung. Wissen über bewusst gestaltete Prozessarbeit. Digitalisierung, Pandemie und Klimawandel. 2022 – eine Zeit im Wandel.

Wo sich etwas verändern soll, kommt die Frage dazu: Wie kommt das Neue in die Welt? Durch hinsehen, hinsehen, und hinsehen, sagt die Innovationsforschung. Dieses Sehen meint emphatisch wahrnehmen, die Eindrücke kommunizieren und sortieren, bevor ich bzw. wir handeln. Wahrnehmen heißt nicht automatisch in der Meinung über ein Thema deckungsgleich werden. Das gelingt in den seltensten Fällen. Doch bei allen unterschiedlichen Ansichten inmitten der aufwühlenden Fragen der Zeit gilt es den Respekt zu wahren. Manchmal steht unsere ganz persönliche Angst zukunftsweisenden Entscheidungen im Weg und manche Entscheidungen wiederum lohnt es zu kritisieren, um eines besseren Ergebnisses Willen.

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ stellt der Beter in Psalm 31,9 ruhig fest. Es ist ein neuer Blick, der sich hier aufmacht. Nicht mehr bedrohlich, an die Wand gefahren und sprachlos. Nicht mehr erbittert kämpfend bis zum Sturz in den Abgrund der Menschlichkeit. Ja, Neues braucht einen gewissen Freiraum und Zeit, um auf die Welt zu kommen und sich zu bewähren.  Dem Beter schenkt Gott in der Beziehung zu ihm frische Atemluft. Beruhigung und Stille. Festgefahrene Gedanken werden frei gelassen. Plötzlich gelingt der innere Abstand zu den eigenen Wahrheitsansprüchen. Hier erfährt ein Mensch, der in die Enge getrieben ist und für den der Handlungsspielraum scheinbar klein ist, dass der eigene innere Raum wieder weit wird. Wie wunderbar! Ja, hier stehe und gestalte ich, hier gehe ich mit, mit den Wellen des Lebens. Immer im tiefen Vertrauen: Du bist da, Gott.

Es grüßt Sie herzlich

Pfarrerin Denise Scheel

Autor:

Denise Scheel

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