Hochzeit des Protestantismus?
Vor 115 Jahren in Dessau: Am 7. Juni 1903 wurde die Petruskirche eingeweiht. Nach anfänglichem Wachstum zeigt der Blick in die Gemeindegeschichte: Probleme, die heutig erscheinen, gab es schon früher.
Von Jan Brademann
Die Kirche schrumpft. Mitgliederzahlen sinken. In Anhalt sind wir dabei, diesen Entwicklungen mit Fantasie und Zuversicht aktiv zu begegnen. Vieles Vertraute muss aufgegeben werden. Dreht die Spirale sich weiter abwärts? Dieser Sorge kann wohl nur mit dem Blick auf das Reich Gottes begegnet werden.
Doch Konjunkturen gehören zur Christentumsgeschichte: Die Mitteilung der Religion geschieht nicht in der Einsiedelei, sondern bei den Menschen. Und diese verändern sich. Vor 115 Jahren in Dessaus Norden waren die Veränderungen erfreulich: Weil die Johannisgemeinde die 14 000er-Marke überschritten hatte und deutlich war, dass Dessau weiter wachsen würde, wurde die Petrusgemeinde gegründet. Die Petruskirche wurde am 7. Juli 1903 feierlich eingeweiht. Schnell entwickelten sich in der Gemeinde vielfältige und zeitgemäße Formen der Gemeinschaft wie Frauenhilfe, Bibelkreis, Missionsverein, Jungmädchen- und Jugendverein. Auch eine Krankenschwesterstation wurde installiert. Von Beginn an bildete der Kindergottesdienst einen Schwerpunkt kirchlicher Arbeit. Beliebt waren die am Landhaus stattfindenden Waldgottesdienste.
Proaktiv nahmen sich neben Pfarrer und Diakon die Gemeindeglieder der anstehenden, alsbald aus Krieg und Inflation resultierenden Probleme an. Die aufgrund des Einschmelzens nötige Wiederbeschaffung der Kirchen-
glocken zum Beispiel gelang bereits zum 22. Oktober 1920. Und die Gemeinde wuchs: Am 23. Februar 1927 stellte sie beim Landeskirchenrat den Antrag auf Einrichtung einer dritten Pfarrstelle: Sie war auf über 10 000 Mitglieder angewachsen.
Heute auf diese Zahl allein mit Wehmut zurückzuschauen, würde gewiss Gottes Geist verfehlen. Es griffe auch historisch zu kurz. Bloße Mitgliederzahlen sagen nämlich wenig, und die Kirche jener Zeit war monarchisch, männlich und stark konservativ geprägt: Der Herzog führte das Kirchenregiment; Gemeindekirchenrat und -vertretung wurden von männlichen Haushaltsvorständen gewählt und de facto von Unternehmern und höheren Staatsbeamten besetzt. Als man zum Jubiläum 1928 mit Stolz auf das in so kurzer Zeit Erreichte zurückblickte, schien es nötig, »den atheistischen Materialismus und den revolutionären Sozialismus der gegenwärtigen Zeit« zu beklagen, welche der Kirche im Weg stünden bei dem Versuch, »die zum Abfall neigenden … Volksmassen wieder zu gewinnen«. In der Tat: Als 1930 bei einer Visitation lediglich 287 Gottesdienstbesucher vorgefunden wurden, waren das keine drei Prozent der Gemeinde.
Von Feindbildern wie dem des »Kulturbolschewismus«, den die Kirchenleitung für dieses Ergebnis verantwortlich machte, sind wir heute frei. Wir wissen, dass es an uns selbst ist, der Freude über Gottes Gute Nachricht den Weg in die Welt zu bahnen. Und wenn wir zurückschauen, dann darf neben dem, wovon wir uns abgrenzen, auch das Bleibende mit Freude betrachtet werden: Wenn am 10. Juni 2018 zum Gemeindefest in Petrus kein Staatsministerium und kein Offizierskorps zugegen sein wird: »Ach wie wird an diesem Orte meine Seele fröhlich sein! Hier ist Gottes Angesicht, hier ist lauter Trost und Licht« – diese Verse dürfen damals wie heute fröhlich gesungen werden. Und damals wie heute tragen die Posaunen ihren Teil dazu bei.
Der Autor ist Mitarbeiter des Landeskirchlichen Archivs und gehört zur Petrusgemeinde.
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