Kettenbücher wurden restauriert
Wo das Wissen an der Kette lag
Anhaltgeschichte(n): Drei mittelalterliche Bernburger Kettenbücher im Archiv der Landeskirche Anhalts wurden 2017 vorwiegend aus Mitteln des Bundes restauriert. Sie werfen stadtgeschichtliche Fragen auf.
Von Jan Brademann
Seit 1988 befinden sie sich im Archiv der Evangelischen Landeskirche Anhalts (AELKA): die Bücher der ehemaligen Kirchenbibliothek Bernburg. Einige Raritäten gehören dazu, darunter seltene Drucke aus der Wiegenzeit des Buchdrucks vor 1500. Die Bibliothek und ihre Bestände haben eine lange und kaum bekannte Geschichte. 1854 gründete das Konsistorium die »Consistorial- und Kirchenbibliothek«, die auch nach dem Ende des Herzogtums 1863 durch den Oberpfarrer an der Aegidienkirche weitergeführt wurde und der Weiterbildung der Pastoren diente. Immer mittwochs zwischen zwei und drei Uhr konnten Bücher ausgeliehen werden. Bis 1898 wuchs die Bibliothek auf 1 700 Titel an. Neben regelmäßigem Zukauf war die Übernahme von Altbibliotheken wesentlich. So gelangten in den 1880er Jahren die vornehmlich auf das 15. und 16. Jahrhundert datierenden Bücher der Ägidien- und der Marienkirche in ihren Bestand.
Dass diese Bücher nun Interesse wecken, rührt daher, dass sie sich seit Kriegstagen in einem zum Teil sehr schlechten Zustand befinden und sich das AELKA 2017 erfolgreich um Förderung der Restaurierung von drei Büchern der 1480er Jahre, vor allem theologischen Inhalts – darunter zum Beispiel Thomas von Aquins »Summa Theologiae« –, bemüht hat. Dabei handelt es sich um Bücher, an denen eine Eisenkette befestigt wurde, die der Fixierung an Pulten oder Pultregalen diente.
Die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK; siehe http://kek-spk.de/home/), die jährlich Projekte zur Bestandserhaltung in einem Volumen von 600 000 Euro fördert, übernahm 90 Prozent der rund 5 800 Euro Kosten der Restaurierung. Ein Eintragsfragment in einem dieser Kettenbücher führt bezüglich ihrer Herkunft auf die Spur: Als »q[ue] Altariste […] [ praedi]catori etc.« – »und [dem] Altaristen […] dem Prediger usw.« – sind die schönen gotischen Kursive zu lesen. An der Marienkirche mit ihren vier Altären lassen sich für das 14. und 15. Jahrhundert in der Tat Altaristen nachweisen. Das waren Priester, die auf der Grundlage von Stiftungen an einem Altar die Messe lasen – zum Seelenheil der Stifter und ihrer Angehörigen. Man weiß, dass einige dieser Altaristen zu ziemlichem Wohlstand kamen. Auch solche Bücher kosteten mit etwa fünf Gulden und mehr ein Vermögen.
Einer der Altaristen, Nikolaus Tychmann, übereignete 1470 sein nahe dem Kirchhof zu St. Marien gelegenes Haus seinen ihm nachfolgenden Brüdern am Altar St. Michael. Das Seelenheil, aber auch das Stadtsäckel im Blick, förderte der Rat der Altstadt dieses Geschäft, indem er Tychmann von städtischen Lasten befreite, aber seine Nachfolger von dieser Vergünstigung ausnahm. Denkbar ist, dass ein Altarist wie Tychmann auch seine Bücher dem Altar vermachte, von wo aus sie mit der Reformation Eigentum der Kirche wurden.
In den 1450er bis 1490er gestaltete der Stadtrat als faktischer Patronatsherr an St. Marien und als Repräsentationsorgan der Bürger selbstbewusst die Geschicke der Stadt. Die vorreformatorische Frömmigkeit, in der Seelenheil und die Repräsentation von Status und Macht miteinander verschmolzen, fand in zahlreichen Stiftungen, florierenden Brüderschaften und nicht zuletzt in der Realisierung des beeindruckenden spätgotischen Chors der Marienkirche ihren sinnfälligen Ausdruck. Der Gedanke, dass damals in oder nahe der Marienkirche eine Pultbibliothek eingerichtet wurde, entbehrt im Moment der Quellenbelege. Doch solch seltenes Bibliotheksgut beflügelt die Phantasie, und diese ist eine Voraussetzung für historisches Fragen.
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