Andacht
Bei dir ist die Quelle des Lebens
Liebe Mitmenschen!
Ein reich verziertes Buch. Eine sprudelnde Quelle. Darunter grünt und erwächst das Leben. Dieses Symbolbild (Emblem) ist Teil der Kanzelgestaltung in St. Bonifatius in Gorsleben mit dem darunter stehenden Psalmwort: „Denn bei dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht.“ (Ps 36,10) So ist Gott. Eine erfrischende Quelle und lebensspendendes Licht. Zwei Bilder zum Staunen und Träumen. Wir Menschen können nicht leben, ohne zu trinken. So dürstet unsere Seele nach Zuneigung, Wärme, Liebe, nach Schönem und Gutem. Der Beter in Psalm 36 weiß um das Böse im Menschen und in der Welt. Rainer Oberthür übersetzt es so: „Das Böse – auch in mir – sagt: Ich will gemein sein! In seinen Augen ist weder Erschrecken noch Ehrfurcht vor Gott. Er gefällt dem Bösen sogar, sich schuldig zu machen und zu hassen. Die Worte aus dem Mund des Bösen bringen Betrug und Unheil. So hört der Mensch einfach auf, weise und gut zu handeln, plant das Übel in der Nacht, geht schlimme Wege am Tag…. Wie kostbar ist deine Liebe, Gott! Menschen sind geborgen im Schatten deiner Flügel. Sie erfrischen und ernähren sich am Reichtum deines Hauses, du lässt sie reichlich trinken vom Überfluss deiner Freuden. Du bist die Quelle des Lebens. In deinem Lichte sehen wir das Licht.“ Im Hören auf die biblischen Worte, im Hören der Geschichten, Emotionen und wundersamen Wendungen im Leben der Menschen mit Gott, fließt auch heute frisches Wasser in mein Leben.
So ist es vielleicht auch den Menschen ergangen, die 1851 schon auf diese Kanzel mit ihren Symbolen geschaut haben. Am Tag des offenen Denkmals 2023 feiern wir in Gorsleben einen Knopfgottesdienst und freuen uns, durch die Öffnung der Zeitkapsel, etwas von den Generationen vor uns zu hören.
Diese gotische Kirche aus dem Jahre 1449 ist etwas Besonderes. Im Mittelalter steht hier vermutlich ein Zisterzienserkloster. Dank und Demut lassen die alten Texte aus dem Jahre 1851 erkennen. Der Pfarrer schreibt in seiner Predigt damals: „Allen, die das Nachfolgende lesen oder vernehmen werden, herzlichen Gruß zuvor! Gott gebe euch viel Gnade und Frieden durch die Erkenntnis Gottes und Jesu Christi unseres Herrn. Vielleicht ist keiner von uns mehr unter den Lebenden hier auf dieser Erde, wenn diese Nachrichten von dem, dass gewesen, dieses Zeugnis … an das Licht des Tages tritt. Möchtet ihr erfahren, was wir für wichtig genug erachten, von unseren öffentlichen Zuständen euch kurz zu berichten.“
Der erste Text im Turmknopf von 1851 erzählt von Überschwemmungen und Feuersbrünsten. Feuer zerstört 1832 ganze 50 Häuser und 70 Nebengebäude. „Nachdem der Ort lange von Feuersbrünsten verschont geblieben war, traf ihn 1832 eine sehr bedeutende, welcher dann 1833, 1836 und 1849 andere folgten … möge der allgütige Gott diesem gegenwärtigen Bau des Kirchturmknopfes lange Jahre unter seinen Schutz nehmen.“
Seit 1815 gehört Gorsleben zu Preußischem Gebiet. Es folgt die Novemberrevolution, die spanische Grippe grassiert und der erste Weltkrieg kostet 46 Gorslebener das Leben. Strenge Winter und Fröste zerstören so manche Obsternte, die für die Gemeindeinnahmen wichtig sind. 1884 heißt es werden viele Neupflanzungen von Obstbäumen rechts von der Hexenwiese vorgenommen, als Ersatzpflanzungen für die Bäume, die durch den Eisenbahnbau gerodet werden mussten. 1835 schreiben die Dorfältesten: „5000-6000 neue Anpflanzungen sind getätigt worden und fügen wir noch den Wunsch hinzu, dass diese Anpflanzungen unter dem göttlichen Schutze gedeihen und unser Nachkommen sich eines reichen Segens daraus erfreuen haben mögen.“
1884 lebten 787 Menschen in 156 Häusern, es gab eine Mühle, 5 Rittergüter, eine Kirche, das Pfarrhaus, und zwei Schulen mit etwa 144 Schülern. Das Gemeindevermögen betrug 6000-9000 Mark. Dem stehen Ausgaben gegenüber. Gemeinde und Kirche fühlen sich gegenseitig füreinander verantwortlich. Da wird Geld in die Reparatur der Orgel investiert, die große Glocke wird in Apolda neu gegossen – es ist das 400. Lutherjubiläum. Die Schriften berichten über den Zuckerrübenanbau, Fruchtpreise, die Überschwemmungen der Unstrut und die Siege der Armee. Dann heißt es noch: „In der Kirche sind durch freiwillige Beiträge, neue Altarleuchter, die Decke vor dem Altar, Krone und Leuchter über den Frauenstühlen, Taufbecken und Kanne angeschafft worden.“ 1884 wird zum zweiten Mal laut den Unterlagen der Knopf herab genommen. Wir lesen: „auch trägt die Gemeindekasse die Kosten, welche erwachsen durch die Festlichkeiten bei dem Aufsetzen des Knopfes, die Schule hat am Tage, die Erwachsenen des Abends freien Tanz.“
1936 heißt es: „52 Jahre später ist die Kapsel wieder offen, die Fahne hing schief, die Spindel war durchgefault. Heute von Schieferdecker Müller Sangerhausen abgenommen, soll die Kugel mit Fahne morgen schon den Turm wieder zieren. Die Kürze der Zeit zwingt die Lehrer des Dorfes, in kurzen Notizen die letzten Ereignisse und jetzige Verhältnisse zu schildern: „1918-1933 Zerrissenheit auch unseres Ortes in viele politische Parteien. 30.1.1933 „Auch Gorsleben steht hinter Hitler, dem Schöpfer des 3. Reiches, dessen volle Souveränität er am 7.3.1936 wiederherstellte. Übermorgen wollen wir in der Wahl seine Tat vor der Welt gutheißen.“
Ein Blick in die Geschichtsbücher sagt zu diesem Tag: Deutsche Truppen rücken in die aufgrund des Versailler Vertrages von 1919 und des Locarno-Vertrages von 1925 entmilitarisierte Zone des Rheinlands ein; sie sollen die deutsche Wehrhoheit wiederherstellen.
1968 ist der Turmknopf wieder offen und wir hören: „1945 begann eine schlechte Zeit für die Menschen, die keinen Landbesitz hatten, besonders für die, die aus dem Osten Europas ins kleiner gewordene Deutschland kamen. Hungernde Städter bekamen für Schuhwerk, Kleidung, Gardienen, die sie den Bauern anboten, teilweise einen Topf Zuckerrübensaft. Von Botenangriffen hat man in Gorsleben kaum etwas gemerkt. Drei Bomben waren im Pferderied niedergegangen. Viele Männer blieben im letzten Krieg, über die keine Tafel Auskunft gibt. Seit dem 18.5.1945 hatte Gorsleben amerikanische Besatzung, seit Juli 1945 sowjetische. Die Bodenreform wurde durchgeführt, landarme Bauern erhalten Ackerland. Es gibt keine Gutsbesitzer mehr in Gorsleben. 23.8.1958 Zusammenschluss aller Bauern zu LPG. Das zieht umfangreiche bauliche Veränderungen nach sich. Es werden 2 große Rinderställe, 1 Schweinestall, 1 Melkhaus, Schuppen für die Traktoren und 2 Hühnerhäuser errichtet. Das Volkseigene Gut baut ebenfalls eine Schweinemastanstalt, einen Schafstall, 2 große Rinderställe, und ein Melkhaus.“ Der Pfarrer schreibt separat aus dieser Zeit: „756 evangelische Einwohner. Die Säkularisierung wirkt sich stark aus. Taufen, Trauungen und Konfirmationen werden immer weniger verlangt. Die Kirche wurde in verschiedenen Bauabschnitten renoviert. 1965 Kirchendach mit Ziegeln gedeckt. 1966 eine Deckenhälfte erneuert. 1967 elektrische Anlagen erneuert.“
Manchmal machen wir Menschen einen Umweg. In unseren kleinen menschlichen Geschichten, aber auch in der großen gemeinsamen Geschichte. Verschiedene Herrschaftsformen, Währungen, politische Ideologien, Kriege, Zerstörung und Umweltkatastrophen. Immer wieder fangen die Menschen von vorn an. Manchmal gibt es ein Dazulernen und manchmal auch große Sprachlosigkeit, Schuld und Schmerz. Mir ist aufgefallen, dass die ersten Zeugnisse aus den Jahren 1851 und 1884 eine besondere Kraft aus ihrer Beziehung zu Gott bekommen. Gott ist in ihrer Lebenswirklichkeit und Deutung der Welt präsent. Als Lebensquelle und Licht in dunklen Stunden. Sie erhoffen sich von diesem Gott etwas in ihrem Leben und Sterben. Sie sehen sich solidarisch verbunden mit den Generationen nach ihnen und schreiben es auf. Über die Generationen hinweg erzählt dieses Haus etwas von der Sehnsucht nach Schönheit und von Gottes Güte inmitten der Irrungen und Wirrungen menschlicher Herzen und Ideen.
Mir gefällt die Vorstellung, dass hier einst Zisterzienserinnen ihren Glauben an Jesus Christus mit den Menschen gelebt haben. Ein Glauben, der der Welt zugewandt ist. Ganz im Sinne der Benediktinischen Regel. In ihrem Geist ist es wichtig dem suchenden Menschen einen Raum zu öffnen, indem er der Stimme Gottes lauschen und ihn loben kann. Vielleicht öffnet sich 2023 auf diese Weise ein innerer Raum im Menschen, der im Lichte Gottes seine Wärme, Liebe und Schönheit empfinden kann. So dass wir heute sagen können: "Herr, deine Güte reicht, so weit der HImmel ist, und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen." (Ps 36, 6) Unsere Kirchen laden ein, dass nicht allein für sich zu sprechen, sondern in Gemeinschaft mit anderen Menschen, deren Einzigartigkeit und Schönheit selbst etwas von Gottes Schöpfung zeigt.
Und so möchte ich mit Worten aus der Predigt von 1851 schließen: „Hiermit nehmen wir von Euch, in deren geistige Gemeinschaft wir uns eingeführt und deren liebenden Rückblick wir uns empfohlen haben, mit herzlichem Gruße Abschied, glaubend und hoffend, dass wir in einer besseren Heimat uns wiedersehen, wo Zeit und Raum verschwindet. Amen!“
Es grüßt Sie herzlich
Pfarrerin Denise Scheel
Literatur: Rainer Oberthür und Marieke ten Berge, Du umgibst mich von allen Seiten. Psalmen für Kinder, Stuttgart, 2023, S. 54
Autor:Denise Scheel |
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