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Beeindruckendes Buch über die Geschichte der Evangelischen Stiftung Neinstedt erschienen
Moralische Pflicht der Aufarbeitung

Die neuere Geschichte Neinstedts beginnt mit der Gründung des Knabenrettungs- und Brüderhauses durch Marie und Phillip Nathusius als eine der mildtätigen Stiftungen durch Angehörige des vermögenden Bildungsbürgertums, wie sie in Deutschland damals an verschiedenen Orten entstanden. So gründete im Jahr 1861 die jüngste Schwester Phillips von Nathusius in unmittelbarer Nachbarschaft ein zweites Werk, die Elisabethstiftung zur Pflege und Betreuung von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung. Die tätige Nächstenliebe bestimmte das Programm und erstreckt sich über fünf Epochen der deutschen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, beginnend im Königreich Preußen und im Deutschen Kaiserreich, über die Weimarer Republik, den NS-Staat, die Jahre der DDR und seit 1990 den Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland. Beide Stiftungen entwickelten sich in den folgenden Jahrzehnten zu den größten diakonischen Einrichtungen im mitteldeutschen Raum. Der Bielefelder Historiker Reinhard Neumann sagt: „Neinstedt ist meine zweite Heimat geworden. Die Geschichte der Stiftung ist äußerst spannend. Besonders fasziniert hat mich der Wandel Philipps von Nathusius vom „Erbe von Beruf“ zu einem engagierten Vorreiter der Sozialpolitik. Mit seiner Frau hat er ein Werk geschaffen, das man 170 Jahre später noch sehen kann. Das ist nicht selbstverständlich“.Acht Jahre hat sich der Betheler Historiker Reinhard Neumann durch die Akten der Evangelischen Stiftung Neinstedt gearbeitet und ein „Lesebuch zur Geschichte Neinstedts“ vorgelegt. Dabei stützt er sich auf das von den Diakonen Werner Krause und Wolfgang Bürger als ehrenamtliche Archivpfleger gesammelte und archivarisch gesicherte historisches Material.
Würden nicht dunkle inhaltliche Kapitel den Blick verdüstern, Neumanns „Zündender Funke“, ein populärwissenschaftliches Buch über die Geschichte der Evangelischen Stiftung Neinstedt, hätte das Zeug für einen Buchkunst-Preis. Selten sah man bisher ein historisches Werk mit so viel optischer Lockerheit daher kommen, wurden mit so viel gestalterischer Hinwendung sachliche Erkenntnisse offeriert. Große Verdienste daran hat die Hamburger Schriftstellerin Nadja von Samson-Himmelstjerna mit ihrem Faible für berührende Geschichte. Solcherart populärwissenschaftliche Literatur zielt nicht auf Wissenschaftler, sondern vielmehr auf den interessierten Laien ab. Somit soll auch einem größeren Publikum ein interessanter Einblick in 170 Jahre Arbeit mit Menschen gegeben werden. Dabei scheuen die Autoren nicht die dunklen Seiten Neinstedter Geschichte. Davon zeugen Kapitel wie „Schrecken und Schikane“ oder „Die Stasi in den eigenen Reihen“. Dabei werden Täter wie die Anstalts-Pfarrer, die in zwei Gesellschaftsordnungen unchristlich handelten, beim Namen genannt. Kaum vorstellbar, dass in den 1980ern in fünf Jahren 10.000 Personen im Neinstedter Umfeld vom Ministerium für Staatssicherheit überprüft wurden und durch ein Netz von Stasi-Informanden in den Anstalten 450 Geruchsproben und Fingerabdrücke von Personen genommen wurden.
Hans Jaekel, Pädagogisch-Diakonischer Stiftungsvorstand, betont: „Christ sein braucht damals wie heute sozialpolitische Wirkung. Das zieht sich durch die lange Geschichte der Stiftung. Es ist ein gewaltiges Stück der Aufarbeitung. Es gibt viel Positives zu berichten, aber auch Dinge, die uns fassungslos machen, wie der Umgang mit der Euthanasie im Dritten Reich“. Die Anstalten gerieten ab den 1930er Jahren in den Sog des NS-Regimes. Auch in der Neinstedter Bruderschaft habe Hitlers Machtübernahme einen wahren Freudentaumel ausgelöst. Im September 1933 wurde ein Führerbeirat inthronisiert, der national-konservative Vorsteher zum Rücktritt gedrängt. Innerhalb weniger Monate habe sich in den Neinstedter Anstalten die Gleichschaltung im Sinne des NS-Regimes etabliert. Mit Martin Knolle, der einen autoritären Führungsstil pflegte, übernahm ein überzeugter Nationalsozialist das Vorsteheramt, der „aus Neinstedt das Musterbeispiel einer nationalsozialistischen-deutschchristlichen Brüderschaft für die gesamte deutsche Diakonie zu formen“. Bald wurden die Fürsorgezöglinge den im Sinne der NS-Volkswohlfahrt den „schwachsinnigen“ und „unnützen“ Bewohnerinnen des Mädchenhauses Johannenhof vorgezogen. In den Neinstedter Einrichtungen waren „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ mindestens 133 Personen allein zwischen 1933 und Sommer 1937 zwangssterilisiert worden.
Zwischen 1938 und 1943 wurden im Rahmen der Euthanasie nahezu 1.000 Pfleglinge und Zöglinge aus dem Elisabethstift und dem Lindenhof in „Zwischenanstalten verlegt“ und somit in Tötungsanstalten wie im anhaltischen Bernburg getötet. Am 30. September 1938 meldete der Leiter des Elisabethstiftes, Pastor Sommerer, an Landesrat Gengnagel, die Verlegung von 86 Pfleglingen in die Landesheilanstalt Jerichow. Für fast alle das Todesurteil, sie wurden in Brandenburg ermordet. Zwischen März und Dezember 1940 wurden 28 Personen aus Neinstedt verlegt, am 29. Januar 1941 kamen 339 Bewohner des Elisabethstiftes in die Landesheilanstalt Altscherbitz (Schkeuditz), die als „Verschiebestation in den Tod“ galt und aus der über 1.800 Anstaltsinsassen nach ihrer Verlegung nach Bernburg vergast wurden. Kinder, die als „nicht bildungsfähig“ beurteilt waren, wurden zur Sonderbehandlung nach Uchtspringe in der Altmark gebracht und mit einer Überdosis Luminal getötet. Von 1938 bis 1943 unterzeichnete Pastor Sommerer 744 „Entlassungen aus Neinstedt. Mindestens 981 Frauen, Männer und Kinder wurden mit 51 Transporten weggebracht. Nach bisherigen Erkenntnissen ist in der Anstalt am Harz selbst im Zuge der Euthanasie kein Heimbewohner zu Tode gekommen.
„Die Stiftung sieht es als moralische Pflicht, diesen dunkelsten Teil der Neinstedter Geschichte detailliert aufzuarbeiten“, erklärt Hans Jaekel. „Ansonsten ist die Gestaltung unserer Gegenwart wie auch Zukunft zum Scheitern verurteilt.“ An diesem leidvollen Kapitel wird Reinhard Neumann noch bis Herbst 2022 intensiv forschen.

Autor:

Uwe Kraus

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