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Die fröhliche Dienstgemeinschaft

(Fotos: Katja Schmidtke, Willi Wild)

Neustart: Pfarrer Christoph Stolte hat am 1. Juli sein Amt als Vorsitzender von Ostdeutschlands größtem Wohlfahrtsverband, der Diakonie Mitteldeutschland, angetreten. Katja Schmidtke sprach mit dem 51-Jährigen über einen außergewöhnlichen Sommer, reizvolle Perspektivwechsel und eine »fröhliche Dienstgemeinschaft«.

Reisen, Ruhe, Müßiggang: Sommerzeit ist Urlaubszeit. Bei Ihnen sieht das in diesem Jahr etwas anders aus. Ein außergewöhnlicher Sommer?
Stolte: Das ist er, zweifelsohne. Der Abschied von der Diakonie-Stadtmission Dresden, dazwischen eine Pause und dann der Start in der Diakonie Mitteldeutschland. Ich freue mich, bin neugierig, und natürlich ist da auch eine gesunde Anspannung bezüglich dessen, was auf mich zukommt.

Worauf freuen Sie sich besonders?
Stolte: Der Reiz ist es, Diakonie aus der Verbandsperspektive wahrzunehmen und diese selbst einzunehmen, aufbauend auf den Erfahrungen, die ich aus der Vorstandsarbeit der Stadtmission Dresden mitbringe. Ich wechsele die Perspektive und bleibe dennoch in der Diakonie, wo ich mich mit Leidenschaft zu Hause fühle.

Was werden die großen Themen Ihrer Arbeit sein?
Stolte:
Armut. Wo sind Menschen in Not, wo ist Teilhabe eingeschränkt, wo entwickelt sich Armut neu – all das werden wir beobachten und darauf nicht nur hinweisen, sondern an Lösungen mitarbeiten. Das Thema Altersarmut wird uns beschäftigen, weil immer mehr Menschen aufgrund gebrochener Berufsbiografien in den letzten 25 Jahren ihr Alter mit sehr kleinen Renten oder Grundsicherung bestreiten werden müssen.

Sie sprachen die gesellschaftliche Teilhabe an. Inklusion wird gerade heftig diskutiert, selbst diakonische Werke haben sich kritisch über die praktische Umsetzung geäußert. Ist das Bundesteilhabegesetz ein Spargesetz?
Stolte:
Inklusion ist die große Vision von gleichberechtigter Teil-
habe jedes Menschen. Diese Vision ist auch biblisch gut fundiert, aber sie konkret zu leben, ist die Herausforderung. Das neue Bundesteilhabegesetz richtet sich an Menschen mit Behinderungen und rückt den Einzelnen ins Zentrum. Jeder Mensch mit Behinderung soll sein Leben so gestalten, wie er möchte. Und wir müssen schauen, wie es in den Ländern, Landkreisen und Kommunen gelingt, dass der Einzelne an Gemeinschaft und Arbeit teilhaben kann. Das ist ein Entwicklungsprozess mit vielen kleinen Schritten. Die Gefahr ist, dass wir uns damit abfinden, dass ein Mensch mit Behinderung grundsätzlich am Rande des Existenzminimums lebt – und das reduziert gesellschaftliche Teilhabe um ein ganzes Stück.
Heute leben viele Menschen mit Behinderungen in Wohnheimen, arbeiten in Werkstätten. Das wird sich ändern.Wir werden eine größere Vielfalt an Betreuung haben, vom Wohnheim bis zu individuellen Formen. Keine ist grundsätzlich besser oder schlechter. Maßstab ist der einzelne Mensch und was er möchte. Das erfordert ein großes Umdenken, auch in der Gestaltung von Arbeit, Arbeitszeiten und Dienstplänen. In der Diakonie wird es zu geteilten Diensten führen, zu einer höheren Flexibilität von täglicher Dienstzeit, wir werden keine Dienstpläne mehr über acht Wochen hinweg festlegen können. Natürlich ist es ein Spannungsfeld, Unterstützung auf der einen Seite so zu gestalten, wie es der einzelne Mensch braucht, und auf der anderen Seite Arbeitszeiten festzulegen, die dem Lebens- und Familien­rhythmus von Mitarbeitern entsprechen.

Mit der Diakonie kamen Sie während Ihres Zivildienstes erstmals in Berührung und haben Ihre Berufslaufbahn nach Vikariat und Pfarrdienst bei der Diakonie in Dresden fortgesetzt. Haben Sie kulturelle Unterschiede bemerkt zwischen Ost und West?
Stolte:
Kulturunterschiede, das ist mir ein zu starkes Wort. Natürlich gibt es unterschiedliche Lebenssituationen, denken Sie an das Thema Armut. Wir sind auf dem Weg in eine deutlich vielfältigere Gesellschaft, in diesen Lernprozessen sind westdeutsche Gesellschaften weiter. Ich bin am Rand des Ruhrgebiets aufgewachsen, bin mit den Kindern der ersten Gastarbeitergeneration zur Schule gegangen, das war für mich alles ganz normal. Die Entwicklung zu einer bunten Gesellschaft wird uns hier im Osten beschäftigen. Ich sehe darin viele Chancen. Wir werden uns alle verändern und voneinander lernen. Die Diakonie in den neuen Ländern ist flexibel und hat einen großen Erfahrungsschatz, wie mit gesellschaftspolitischen Veränderungen umzugehen ist.

Sie haben in Marburg, Göttingen und São Paulo studiert. Danach sind Sie nach Sachsen gegangen. Warum?
Stolte:
Meine Frau und ich haben Freunde in Sachsen und waren schon als Schüler dort, der Osten war uns nicht unbekannt. Nach Ende des Studiums entschieden wir uns aus einem einfachen Grund dafür, nach Sachsen zu gehen: Neugier. Wir stellten uns damals die Frage, wo wir leben wollen, wo viel passiert und vieles möglich ist. Zu Beginn meines Vikariats im Sommer 1994 sind wir fröhlich nach Leipzig gezogen. Das war und ist gut und richtig. Wir sind gerne in diesem Teil Deutschlands, wir wollen bleiben. Hier ist Heimat, wir sind angekommen.

Sachsen-Anhalt und Thüringen kennen Sie bislang nicht so gut wie Sachsen. Worauf freuen Sie sich besonders?
Stolte:
Darauf, die vielen kleinen, aber geschichtlich und kulturell prägenden Städte kennenzulernen. Da kommt mir zugute, dass ich diesen Sommer einige der insgesamt 1 700 Einrichtungen der Diakonie Mitteldeutschlands besuchen werde.
Ich war am 28. Mai bereits in Wittenberg, da ich leidenschaftlicher Posaunenspieler bin. Als einer der 6 000 Bläser habe ich mit meinem ältesten Sohn unter der sengenden Sonne schöne Musik gemacht. Das war eine wunderbare Erfahrung. Da sind wir angedockt an diese Region. Mit der Familie wollen wir uns im Sommer die Weltausstellung Reformation ansehen.

Wird Ihre Familie nach Halle ziehen?
Stolte:
Ja, aber erst nächsten Sommer, damit unser Sohn noch in Sachsen Abitur machen kann und nicht kurz vorm Abschluss die Schule wechseln muss.

Wie verbringen Sie den Sommer?
Stolte:
Ich genieße es, im Sommer nach der Arbeit viel draußen zu sein. Ich bin leidenschaftlicher Läufer. Sommerkonzerte, Open-Air-Kino, das finde ich reizvoll. Wir verreisen jedes Jahr an einen anderen Ort. Wohin, das wird im Herbst gemeinsam ausgehandelt. Dieses Jahr an die Nordsee. Wir fahren Rad und werden zusammen kochen – Dinge, für die wir im Alltag nicht so viel gemeinsame Zeit haben. Ferienbedingt ist mein erster Arbeitstag am 17. Juli.

Sie haben sich den Kollegen in der Geschäftsstelle in Halle bereits vorgestellt, eine Andacht gehalten. Was erwartet die rund 100 Mitarbeiter? Was sind Sie für ein Chef?
Stolte:
Ich habe den Kollegen Mut gemacht: Gute Lösungen finden wir nur gemeinsam. Der große Reichtum liegt in uns: der Bandbreite der Männer und Frauen hier, der Bandbreite ihrer Berufe – Theologen, Pädagogen, Juristen, Betriebswirte. Jeder soll seine Fachlichkeit und Persönlichkeit einbringen, und meine Hoffnung ist, dass wir Lösungen erarbeiten, die mehr sind als die addierte Summe der Einzelgedanken. Als ich das bei der Andacht am 19. Juni sagte, habe ich in sehr offene, freundliche Gesichter geschaut.
Im Leitbild der Geschäftsstelle steht übrigens die wunderbare Kombination von »fröhlicher Dienstgemeinschaft«. Das drückt Leichtigkeit aus, Humor, gemeinsam auf dem Weg sein. Fröhlich unterwegs sein, auch bei schwierigen Themen, heißt beweglich genug zu sein, noch einmal anders zu denken.

Die Flüchtlingskrise hat in den Kirchen zu einem großen Aufschwung geführt. Sie hat gezeigt, was an ehrenamtlichem Potenzial vorhanden ist. Wie lässt sich das erhalten und fortsetzen?
Stolte:
Die Kirchen waren sehr offen, mit anderen gesellschaftlichen Akteuren zusammenzukommen. Sie waren der Partner, der alle versammelt. Ich hätte noch vor drei Jahren gedacht, Kirche hätte da viel weniger Energie – und das in einer Gesellschaft, von der wir oft behaupten, jeder denke nur an sich. Das stimmt nicht. Gerade bei jungen Menschen war die Bereitschaft groß. Wir haben noch viel Potenzial, müssen uns aber umstellen. Vieles wird spontaner, flexibler, weniger strukturiert-organisiert. Die Diakonie kann dabei helfen, ich denke da an die Qualifizierung von Ehrenamtlichen und eine gute Vernetzung mit Hauptamtlichen.

Ihr Vorgänger, Oberkirchenrat Eberhard Grüneberg, hat für einen Schulterschluss von Kirchengemeinden und Diakonie geworben. Wie sehen Sie das?
Stolte:
Wir müssen davon wegkommen, in Strukturen zu denken. Da eine GmbH, ein Verein, eine Stiftung – das sind alles Hilfsformen, um unseren Auftrag gut zu verrichten. Theologisch ist Diakonie ein Teil der Kirche. Viele Mitarbeiter verstehen sich als Teil der Kirche, auch nichtkonfessionell Gebundene. Das Verständnis von Kirche und ihrer Diakonie zeigt sich bis in die EKM-Verfassung: Der Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werkes ist Mitglied des Landeskirchenrats; auch, dass die Landessynode die letzte Entscheidung bei der Personalbesetzung hat, ist Ausdruck eines Gesamtverständnisses.

Und wie kommt dieses Verständnis an die Basis, an die Kirchengemeinden und diakonischen Werke?
Stolte:
In Dresden habe ich dafür geworben, dass der Gottesdienst im Seniorenheim auch im Gemeindeblatt angekündigt wird, denn auch die diakonische Einrichtung ist ein Ort der Kirche. In vielen Gemeinden ist uns das gelungen und es kamen Menschen aus dem Stadtteil ins Pflegeheim, weil es näher ist oder die Zeit passender, weil das Heim barrierefrei ist oder man sowieso eine Nachbarin besuchen wollte. Und plötzlich wächst es ineinander.

Christoph Stolte stammt aus Unna (NRW). Er leistete seinen Zivildienst bei der Diakonie Bayern, studierte in Marburg und Göttingen evangelische Theologie und war Stipendiat des Lutherischen Weltbunds in São Paulo (Brasilien), wo er katho-
lische Theologie studierte. 1994 begann er sein Vikariat in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Er war Gemeindepfarrer in der Region um Bautzen und acht Jahre Stadtjugendpfarrer von Dresden. Stolte leitete anschließend fast zehn Jahre lang die Diakonie-Stadtmission Dresden mit 1 400 Mitarbeitern. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Autor:

Adrienne Uebbing

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