»Versagensgeschichte der Kirche«
Industrialisierung und Kirche: Harald Krille sprach mit dem Hallenser Kirchengeschichtler Professor Axel Noack über Ursachen und Folgen.
Der Freistaat Thüringen stellt in seinem Themenjahr die Industrialisierung und die sozialen Bewegungen in den Mittelpunkt. Woran denkt ein Kirchengeschichtler zuerst, wenn er das Wort Industrialisierung hört?
Noack: Bei Thüringen fallen einem sofort ganz besondere Dinge ein, etwa die Aufbruchbewegungen in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Man nennt die Zeit auch die Zeit der wilden Propheten, die begleitet von weißgewandeten Jungfrauen durch das Land zogen und ihre Heilslehren verkündeten.
Zum anderen denkt der Kirchengeschichtler natürlich an die Arbeiterbewegung und die damit verbundene Entkirchlichung. Schon 1919 bei den Wahlen zur Nationalversammlung fällt auf, dass sowohl in Thüringen wie auch in der Provinz Sachsen sehr viele Menschen die Sozialdemokraten oder sogar die Unabhängigen Sozialdemokraten wählten. Und das, obwohl die Kirchen relativ lautstark vor der Wahl dieser Parteien warnten.
Das wurde und wird von vielen als Zeichen dafür gesehen, dass die Kirche besonders von den Industriearbeitern schon sehr weit entfremdet war. Die Kirche muss deshalb die Geschichte der aufkommenden Industrialisierung auch als ein Stück Versagensgeschichte sehen.
Von August Bebel ist der Ausspruch überliefert, Christentum und Sozialismus stünden sich wie Feuer und Wasser gegenüber.
Noack: Dieser Zug ist von Anfang an in der Arbeiterbewegung zu finden. Gerade die Sozialistische Bewegung ging ja zum Teil auch aus Abspaltungen von der Kirche hervor. Gerade in Thüringen und dem heutigen Sachsen-Anhalt muss man da die sogenannten Lichtfreunde und Vertreter der rationalistischen Theologie erwähnen. Nicht umsonst erfolgte die Gründung der ersten Arbeiterpartei und dann auch der SPD in Thüringen.
Und: Gerade auch in Thüringen gab es engagierte »religiöse Sozialisten« auch unter der Pfarrerschaft.
Nun spricht man ja auch gern von den sozialen Bewegungen der Kirche, von Diakonie und Caritas, als den Lichtbringern in dunkler Zeit. Aber im Blick auf die sozialen Herausforderungen der Industrialisierung spielten sie offensichtlich keine Rolle?
Noack: Der sogenannte soziale Protestantismus spielt schon eine wich-
tige Rolle, vielleicht stärker noch im damaligen Preußen als in Thüringen. Aber das Problem ist, dass dieser soziale Protestantismus, ich nenne nur den Namen Adolf Stoecker, sich von Anfang an eben auch gegen die Sozialdemokratie wandte.
Sozialarbeit wurde damit als Gegenbewegung zur SPD verstanden. Letztlich ist die Kirche genötigt worden, sich sozial zu engagieren. Sie tat es nicht von allein. Und
sie hat die ganze Härte der sozialen Frage nicht ausreichend wahrgenommen.
Hat diese Entfremdung Auswirkungen bis heute?
Noack: Die Auswirkungen spüren wir heute noch. Die Entfremdung ist im Grunde geblieben. Übrigens waren deshalb auch so viele Pfarrer in Thüringen so empfänglich für den Nationalsozialismus, weil sie zumindest anfänglich dachten, mit Unterstützung der NSDAP kommen jetzt die Massen wieder zur Kirche.
Die Industrielle Revolution ist Geschichte, heute spricht man von der digitalen Revolution. Was bedeutet das für die Kirche?
Noack: Wir sollten bei solchen Schlagworten schon genauer hinschauen. Es stimmt doch einfach nicht, dass man in Zukunft nur noch mit Informatikstudium durchs Leben kommt. Auch in Zukunft gibt es beispielsweise handwerkliche Aufgaben.
Aber wir stehen als Kirche in der Gefahr, auch dem Akademisierungswahn unserer Gesellschaft zu erliegen. Selbst unter Pfarrern empfindet man es als sozialen Abstieg, wenn die eigenen Kinder nicht studieren. Menschen, die nur schlichte Aufgaben ausführen können, sind auch bei uns nicht hoch im Kurs.
Mal ganz konkret: Wir versuchen überall elektrische oder sogar digital gesteuerte Läuteanlagen zu installieren. Und nehmen damit jedem, der vielleicht nie Lektor sein aber durchaus die Glocken läuten könnte, die Möglichkeit der Beteiligung.
Autor:Online-Redaktion |
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