Befreit von den Fesseln
Metall-Kruzifix in Marktkirche Halle
Von Mechthild Hofmann
Welch unerhörte Szenerie! Christus ist nicht tot – er ist sogar sehr lebendig. Er befreit sich von den Fesseln, mit denen er ans Kreuz gebunden war. Steigt er vom Kreuz? Mit dem rechten Arm weist er auf den Betrachter, der linke Fuß tritt auf den Totenkopf, der rechte Fuß überwindet die Schlange und hat festen Boden erreicht.
Der Metallgestalter Peter Hinz (1941–2007) aus Halberstadt hat dieses Kruzifix geschaffen – eigens für den regionalen Kirchentag in Halle unter dem Motto »Gottes Wege führen weiter« im Herbst 1976. Vom ersten Tag an sorgte es für Aufsehen und Diskussionen.
Hinz benutzte ein seriell gefertigtes Kreuz aus dem 19. Jahrhundert, wie man es in der Region in vielen Kirchen finden konnte. Hier hakte er ein und verfremdete. Im Feuer verbog er das Kreuz. Bei diesem Prozess fiel das letzte »I« der Kreuzinschrift »INRI« (Initialen des lateinischen Satzes Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum – »Jesus von Nazaret, König der Juden«) ab. Nach reiflicher Überlegung entschloss er sich, den »zufälligen« Schaden nicht zu beheben. Seiner Meinung nach ist Jesus nicht nur für die Juden der König. Den Korpus schweißte er aus Eisenabfällen und befestigte ihn mit Stacheldrahtresten am Kreuz.
In einem Brief vom 16.11.1979 an Pfarrer Martin Zeim bekannte er sich zu einer ganz »… persönlichen Formulierung. Und diese, das darf ich vielleicht noch einmal hinzufügen, hatte nicht den barmherzigen Christus gemeint, sondern eher den der Verzweiflung nahen, der Jahrhunderte auf erhobenem Sockel mit vergoldeten Attributen versehen wurde, das aber nicht mehr aushält, dort oben beguckt zu werden und deshalb wieder – wenn auch unansehnlich, wieder unmittelbarer werden will, deshalb wieder zurückweist, guckt, ruft – da – nicht hier oben – vor Euern Füßen …«
Peter Hinz schuf 1970 ein Kreuz und sechs Leuchter zum 80. Geburtstag der Maria-Martha-Kirche in Bautzen, 1991/92 ein Solidaritätskreuz für den ›Raum der Stille‹ in St. Franziskus in Hochdahl, 1997 ein Kreuz für den im 2. Weltkrieg stark beschädigten gotischen Hochaltar in St. Nikolai in Stralsund. Sein Kruzifix für die Marktkirche in Halle nimmt einen besonderen Platz ein: Es spricht den Betrachter unmittelbar an, es verstört, es macht nachdenklich und ist auch heute noch Anlass zu lebhaften Diskussionen.
Der Künstler und Kommunalpolitiker Johann Peter Hinz starb im Februar vor zehn Jahren in Halberstadt. Er ist nicht vergessen.
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