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»Gott schickte mir die besten Engel«

Erinnerungen: Lothar Rochau, heute ... | Foto: Katja Schmidtke
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Christen in der DDR: Ausgerechnet in der NVA-Zeit fand Lothar Rochau zum Glauben. Er wurde Diakon und wollte fortan keine faulen Kompromisse mehr machen.

Von Katja Schmidtke

Wenn Lothar Rochau über die Zeit spricht, die zu seiner Verhaftung, Verurteilung und erzwungenen Ausreise führte, dann klingt es, trotz allem, wie die Zeit seines Lebens. Die hellen Augen leuchten, erinnert er sich an die Freitagabende im Bauwagen auf dem Kirchengelände in Halle-Neustadt. Seine Lippen formen ein Lachen, denkt er an seine Freunde, die Visionen, die sie teilten, die Aktionen, die sie planten. Seine Stimme zitiert fröhlich aus den Büchern, die sie lasen. Er springt vom Stuhl auf, zeigt Fotos: Rüstzeit in Braunsdorf im Thüringischen, Werkstatt-Tage in Neustadt, Fahrraddemo durch Halles Altstadt. »Ich hatte so wunderbare, mutige, so tolle junge Leute um mich und wir hatten so viel Freude«, sagt er.
Eine Zeit der Befreiung. Dabei war die Offene Arbeit, die Rochau als Jugenddiakon in der Kirchengemeinde in Neustadt – der sozialistischen Musterstadt – 1977 aufbaute, umstritten. Nicht nur bei der Stasi oder offiziellen staatlichen Stellen, sondern auch in seiner Kirche.
Bruder Rochau praktizierte die Offene Arbeit nach dem Vorbild Walter Schillings aus der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen. Offene Arbeit war mehr als Arbeit, es war ein Lebensentwurf. »Die Befreiung des Menschen durch den Menschen. Du hast deine ganze Person in die Waagschale gelegt«, erklärt Lothar Rochau. Die radikale Öffnung der Jungen Gemeinde war die Antwort auf ein politisiertes staatliches Bildungssystem und der Versuch, Kirche für andere und mit anderen zu sein. Aber die von Staat und Stasi vorangetriebene Differenzierung zwischen dem Diakon und den jungen Leuten auf der einen und der Kirchengemeinde auf der anderen Seite, gewinnt letztlich der Staat. Rochau wird 1983 von seiner Kirche entlassen.
Verlassen fühlt er sich nicht – zumindest nicht von Gott. Denkt er an seine Inhaftierung im »Roten Ochsen«, spricht er zwar von Einsamkeit, aber auch von der Kraft, die ihm die Leidensgeschichte Jesu gab und von den »besten Engeln, die Gott immer wieder zu mir schickte«. Der Prozess und die Haft sind Prüfungen, gewiss. Aber Angst? Nein. »Wir riskieren in der DDR vielleicht unser Wohl-Leben, nicht aber unser Leben«, zitiert Rochau Robert Havemann. Der Diakon sieht selbst in den dunklen Stunden seinen Weg. »Und ich wusste, irgendwann werden es auch die anderen sehen. Ich hatte ein tiefe Zuversicht.«
Die tiefe Zuversicht des Glaubens wurde Lothar Rochau nicht in die Wiege gelegt. Was er aufsog mit der Muttermilch, das waren Liebe, Sicherheit, Urvertrauen. »Ich zehre ein Leben lang von dem, was meine Mutter mir gegeben hat«, sagt er mit Zärtlichkeit.
1952 in Weißensee/Thüringen geboren, wird der Säugling auf Bestreben der Mutter getauft. Aber als der Vater 1955 Parteisekretär wird, »ist Ruhe mit Kirche« im Hause Rochau. Mit 13, 14 Jahren liest er Hermann Hesse, Leo Tolstoi und Albert Schweitzer. Er lässt sich die Haare wachsen, trägt Parka, hört Blues. Er ist ein Kunde, ein Tramper. Und als ihm, der 1 000 Meter in 2:55 Minuten läuft, die Teilnahme an der Spartakiade verboten wird, weil er lange Haare hat, verändert ihn das.
Zum Glauben findet er einige Jahre später, ausgerechnet bei der Armee. Nach einem Lazarettaufenthalt macht er auf dem Weg zurück zur Kaserne in Eggesin Stopp in Ueckermünde und geht, einem inneren Bedürfnis folgend, in die Kirche am Markt. »Ich muss einen ziemlich traurigen Anblick abgegeben haben«, sagt er heute lachend. Eine Dame setzt sich zu ihm, schenkt ihm ein kleines blaues Neues Testament. Die Bergpredigt und besonders die Seligpreisungen sind eine Offenbarung für den jungen Mann. Er kehrt als Christ von der NVA zurück. Nach Glaubensunterricht bei Pfarrer Siegfried Merker in Weißensee ist Rochau klar, dass er sich in den Dienst der Kirche stellen möchte. »Ich möchte etwas Praktisches tun, etwas mit Menschen«, sagt er dem Geistlichen und beginnt 1973 in Eisenach und Neinstedt seine Ausbildung.
Der Jugenddiakon ist kein frömmelnder Christ, aber ein politischer. Das Christentum verlange, sich für Gerechtigkeit und Menschenrechte einzumischen. Rochaus Tun stützt sich auf zwei Grundpfeiler: Die Botschaft radikal ernst zu nehmen und die Ebenbildlichkeit Gottes in den Menschen zu erkennen.
Das gilt auch für seine politischen Gegner; Feinde nennt er sie nicht. Die Boshaftigkeit seiner Stasi-Vernehmer greift ihn an. Aber er sieht hinter der Fassade, hinter dieser Hülle die Menschen. »Sie taten mir leid, sie liefen an ihrer Bestimmung als Mensch vorbei.« Mit dem Staatsanwalt, der Rochau angeklagt hat, sprach er sich kurz nach der Wende aus. Seinem Verteidiger Wolfgang Schnur, der für die Stasi spitzelte, hat Rochau die Absolution nach einer absurden Szene verweigert. Detlef Hammer, Oberkonsistorialrat und Offizier im besonderen Einsatz, verstarb 1991 völlig überraschend.
Besonders wichtig war Lothar Rochau nach der Wende das Gespräch mit Helmut Hartmann, dem damaligen Superintendenten von Halle. Pfarrer Hartmann schätzte Rochaus Arbeit in Neustadt, er schützte ihn so lange es ging und konnte am Ende doch nicht helfen, sondern musste ihn entlassen. »Es tut mir bis heute weh, dass alles auf dem Rücken von Helmut Hartmann ausgetragen wurde«, beklagt Rochau.
Hat er inzwischen verziehen, seiner Kirche vergeben? »Schuld und Vergebung sind individuelle Prozesse«, sagt er. Dennoch berührt ihn das Bußwort der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Es sei ein Eingangstor, ein Arbeitsauftakt. Lothar Rochau denkt nicht nur an die Hauptamtlichen, die bedrängt und drangsaliert, ausgewiesen und mit zeitweiligem Berufsverbot belegt worden sind. Er denkt auch an all die Gemeindeglieder, die Ehrenamtlichen und an seine Freunde von der Offenen Arbeit.

Hintergrund

Jugenddiakon Lothar Rochau kommt 1977 nach Halle-Neustadt. Schnell spricht sich unter den unangepassten Jugendlichen herum, dass sie in der Kirche am Rande der Plattenbauten eine Heimat finden können. Mit den Werkstatt-Tagen schaffen sie ein republikweit bekanntes Festival. Spätestens, als die Offene Arbeit (OA) regimekritische Künstler einlädt, forciert der Staat die Differenzierung zwischen Gemeindeleitung und OA-Akteuren.
Nachdem 1981 zwei Freunde der OA verhaftet und verurteilt werden, entscheidet die Kirchengemeinde, »dass die Jugendarbeit von Rochau nicht mehr verantwortet werden kann«. Kirchenkreis und Neinstedter Bruderschaft können nicht vermitteln. Offiziell zur Weiterbildung beurlaubt, sucht Rochau im gesamten Gebiet des Bundes Evangelischer Kirchen nach Arbeit – erfolglos. Ende Februar 1983 wird er entlassen.
Aber er macht weiter. Er und seine Freunde wagen mehr. Am 5. Juni 1983 startet eine Fahrraddemo gegen die Umweltverschmutzung durch die Chemieindustrie. Rochau wird am 23. Juni festgenommen, im September zu drei Jahren Haft verurteilt und im Dezember in die Bundesrepublik abgeschoben. Kurz nach dem Mauerfall kehrt er nach Halle zurück. Er arbeitet bis zu seiner Pensionierung in der Stadtverwaltung und ist heute ehrenamtlich Ombudsmann für Soziales.

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