in der Wolke ...
19. Sonntag nach Trinitatis

Wir wollen uns zwei schönen Gedanken aus der Heiligen Schrift widmen. Es sind Geschichten von der Begegnung mit dem Ganz-Anderen. Die eine Begegnung endet mit dem Geschenk ewiger Werte 1), wie wir heute sagen würden. Das Lebensgesetz, von dem Kant meinte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Die mindestens zehn Gebote. Die andere Geschichte endet mit der persönlich erfahrenen körperlichen und seelischen Gesundheit eines gelähmt gewesenen Menschen2).

Diese beiden Erzählungen wollen wir nun bei der Hand nehmen und ihre inneren Gedanken spazieren führen - ähnlich so, wie Kavaliere ihre Damen durch den Park geleiten. Das überhaupt ist die Aufgabe der Kirche: Wir sollen das Gute, Wahre und Schöne mit uns auf der Straße erscheinen lassen. Neben anderen Aufgaben, die die Kirche ebenfalls hat, ist dieses wohl ihre wichtigste Aufgabe. Man kann heutzutage viele Leute sehen, die sich in unappetitliche Masse durch die Straßen wälzen, wobei üble Sprüche gerufen werden. Christen gehören - Gott sei Dank - nicht zu diesen Vielen, sondern wir sind - gepriesen sei der HERR - eher die Wenigen! Wir sind jene, welche oft nur allein, zu zweit oder zu dritt mit ein paar guten oder zumindest interessanten Gedanken unter den herbstlich gewordenen Bäumen des ehemaligen Paradieses wandeln - untergehakt an der Seite von meist  unsichtbaren Engeln. Was für eine schöne Vorstellung.

Die beiden Texte, die wir am heutigen 19. Sonntag nach Trinitatis gehört haben1.2), warten mit einigem Zierrat und manchem von uns bisher unbekannten Accessoires auf. Da ist zum Ersten die Beobachtung, wie Mose zu einem Berg hinauf steigt - und dass Gott auf eben denselben Berg hinabsteigt. Zwei gegensätzliche Bewegungen also, die ein Zusammentreffen zur Folge haben. Wäre Mose nicht hinaufgestiegen, wäre Gott vielleicht gar nicht herab gekommen? Ist unser versuchter Aufstieg in die Höhen der Gottesbegegnung vielleicht sogar Bedingung für die Offenbarung eines sogenannten wirklich Göttlichen? Lasst uns die Mühe also nicht mehr scheuen!

Die hebräische Bibel benutzt für das menschliche Aufsteigen die Vokabel AaLaH (עלה), was auch soviel wie „Klettern” bedeutet. Klettern schließt schon eine gewisse Anstrengung mit ein, zumal Mose in seinen Händen noch die beiden bisher leeren Steintafeln zu schleppen hat, samt der Hoffnung, dass die tabula rasa sich nach entsprechendem göttlichen Diktat nicht weiterhin als leer erweisen werden. Gott dagegen klettert nicht hinab, sondern er steigt herab oder sinkt danieder in einer Wolke. Er schwebt. Dafür nutzt der Text die Vokabel JaRaD (ירד). Von hier her stammt ebenfalls der Name des Jordanflusses. Jener Strom, der in steter Flut seine Mäander majestätisch vom See Genezareth aus hinab steigen lässt - und in welchem Jesus sich durch Johannes taufen ließ.

Diese wechselseitige Bewegung eines unter Lasten mit Mühsal beladenen Bergsteigers einerseits - und des majestätischen Sich-Hinabgebens Gottes auf einer Wolke andererseits ist das erste Mysterium der heutigen Texte. Hätten wir dreihundertundfünfzig Jahre eher gelebt, hätten wir Jean Baptiste Lully, den Komponisten Ludwig des XIV. dazu überreden können, für den Hofstaat von Versailles ein Oratorium samt tänzerischer Choreographie aufführen zu lassen. Zum Thema: Die Grandiosotät wirklicher Begegnung eines sich mühenden kleinen Menschen mit dem Gott aller Himmel. Es verwundert deshalb auch nicht, dass der Text Gott in Folge nicht als irgendetwas Gutes oder Tragisches beschrieben haben will. Unbegreiflich bleibe die Gottheit, weil sie zugleich begnadigt und ebenso straft. Gott ist nicht lieb oder gar bös. Er bleibt das Ganze! Und Mose geht angesichts dieses inneren Widerspruchs aller Gottesbegrifflichkeiten ehrfürchtig in die Knie.

Es soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass das Thema des Steigens bzw. Herabschwebens als Begegnung einer sogenannten starken Erfahrung auch im Evangeliumstext des heutigen Sonntags zu beobachten ist. Die sonderbar konträre Bewegung des Entgegen-Schwebens nach mühseligem Aufstieg: Ein Gelähmter wird von seinen Freunden mühsam auf das Dach geschleppt, um von dort aus herabgelassen zu werden. Die Krankentrage dieses armen Mannes gleicht jener Wolke, auf der man dem Sohn Gottes nunmehr nach unten entgegen schwebt. Und dieser Gott bleibt nicht stumm. Er sagt die Heilung aus - durch das gesprochene Wort geschieht sie. Danach nimmt der Mann die „Wolke” mit nach Hause. „Nimm dein Bett und geh!” sagt Jesus. Auch Mose nimmt die beiden wunderbar mit dem ewigen Sittengesetz beschriebenen Tafeln und wendet sich seinem Volk wieder zu - einem halsstarrigen Volk. Am Volk hat sich bis heute nicht viel geändert - und an den Herrschenden, die angeblich aus der Mitte des Volkes gewählt werden, auch nicht.

In beiden Texten geht es also um die jeweils eigene Erfahrung in der Gottesbegegnung. Die Präposition „Gegen” in dem Wort „Gottesbegegnung” müssen wir ernsthaft betrachten. Es gibt die Erfahrung Gottes tatsächlich fast nur als Be-GEGEN-ung. Alle wirkliche Erfahrung ist nur als solche Gegenung denkbar. Hier wird es wohl etwas philosophisch? Nicht schlimm. Denn die Philosophie musste als Hilfswissenschaft schon immer die Magd der Theologie sein. Ohne sie wären wir fast machtlos. Mit ihrer Hilfe aber dürfen wir die Gedanken über das Göttliche spazieren führen. Zu diesem Zwecke erzählen wir solche alten Geschichten, die sich seit Jahrtausenden um den Gedanken der Gegenwart Gottes anversammelt haben. Und steigen mit ihnen auf das Dach unserer Kultur, um dort die Schindeln zu lockern - und uns dann von den alten Seilen getragen, die die alten Evangelisten und Kirchenväter uns zur Verfügung stellten, herab lassen zu lassen.

Natürlich wird man mit solchen Gedanken Niemandes Politik machen können. Man kann mit ewigen Dingen nicht indifferente Leute auf die Seite von irgendwelchen Mehrheiten bringen. Es gehört sich partout nicht, das Ewige zu benutzen, um mit seiner Hilfe Leute zu wählenden Massen zusammen zu fassen. Nein - man wird über solchen Gedanken, wie wir sie sich hier eben haben entwickeln lassen, still, eingedenk und fromm. Mehr wäre weniger. Es reicht, wenn man zu staunen begonnen hat, dann zu denken - und in Folge zu danken.

Die andere Beobachtung und das zweite Mysterium ist Folgendes: Der Text lässt eine sonderbare Schwebe spüren. Gemeint ist die im Alten Testament hier und da zu beobachtende „Schwebe im Wort.” Es bleibt nämlich dem Leser zur Entscheidung vorbehalten, wer in Exodus 34, 5.6 den Namen des HERRN ausruft. Es kann sein, dass Gott selbst seinen Namen ruft und danach die Bedeutung des Namens erklärt. Und es kann auch sein, dass Mose diesen Namen (aus Exodus 3) erinnert und ihn deshalb selber ausruft. Das rufende Subjekt der Verse 5 und 6 ist jedenfalls nicht eindeutig benannt. Zumal es im Vers 5 heißt, dass beide (der HERR und Mose) dicht nebeneinander stehen und das Sein selbst (der HERR) beim und mit Namen angerufen oder ausgerufen wird, drängt sich hier unweigerlich der Gedanke auf, dass der Vorgang des Rufens dieses Namens nicht nur Gott meint, sondern als Gerufen-Werden Gott selber ist. Und das bedeutet, dass es Gott im und als Wort nicht nur aber wesentlich überhaupt „gibt.” Oder besser gesagt - Gott sich in der ihn wirklich anrufenden und ihn meinenden Sprache ereignet. Indem je ich also das Wort des Herrn ernstlich ausspreche, ist der Herr in meinem und zugleich als sein eigenes Wort selber realiter da. Er ist er zugleich als sein Wort, weil ich - dieses Wort redend - den HERRN sich ereignen lassen darf.

Genau das ist es, was die Kirche dem einzelnen Menschen zu sagen hat: Wir haben eine Möglichkeit, uns Gott sich gegenwärtig werden zu lassen: Wir preisen seinen Namen und rufen ihn an. So ist das Angerufene - er selbst - dicht bei uns. Aber zugleich gilt, nicht wir haben ihn „gesagt”, sondern Gott hat sich selbst in unser Wort eingelegt und sich durch uns aussprechen lassen. So kommt es im Aussagen seines Namen-Wortes zu einer Verschmelzung von Sagendem und Gesagten. Das gleichzeitig geschehende sehende Lesen, Sprechen, Hören und Denken dieses Wortes gleicht einer Formel, die da bewirkt, dass Gott und Mensch sich begegnen - und zugleich dieses einander Be-GEGEN-en zur Identität wird. Die Wolke übernimmt die Last der beiden vorerst noch ganz leeren Steine und schreibt ihnen dann aber einen ewigen Text mit untrüglichen Zeichen ein. Auf der Krankentrage senkt sich das Göttliche herab und der Lahme geht spazieren.

Es ist nicht ungeheuerlich, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer das nicht sofort begreifen wollen und zu protestieren beginnen. Sie können nicht anders. Wir sollten Mitleid mit ihnen haben. Mindestens …

Selber aber wollen wir uns an Folgendes halten:
1. Wir sind stolz darauf, dass wir an der Seite ewiger Gedanken still über die Straßen und Plätze spazieren könnten. Die dem Guten, Wahren und Schönen zugetan sind, werden uns freudig zuwinken.
2. Wir scheuen nicht den Aufstieg mit der schweren Last unserer kirchlichen Traditionen weiter fortzusetzen.
3. Alle Wolken können uns doch nicht verbergen, dass sich in den Rätseln unserer Erfahrungen ein Sinn und noch mehr - der Sinn des Sinns einschreiben wird.
4. In einigen Geschichten der Bibel verbirgt sich ein Gestaltwandel - ähnlich wie in einer Wolke, die ihre Gestalt wandelt. Das ist die Trage, die Sänfte Gottes, - zugleich so etwas wie sein Krankenbett. Nehmen wir dieses Möbel mit nach Hause. Und bewahren wir es auf. Darauf haben wir unter Umständen selber lange gelegen. Das Ding kann uns an unsere eigene Heilung erinnern - oder dieselbe eines Tages zu ermöglichen helfen …

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1) Und Mose hieb sich zwei steinerne Tafeln zu. Erhob sich am frühen Morgen, bestieg den Berg Sinai, die Tafeln in seiner Hand. Da fuhr der HERR im Gewölk danieder und stellte sich dicht zu ihm. Und er rief das SEIENDE beim Namen. Und ES ging vorüber. Und rief aus: HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der Tausenden Gnade bewahrt und Missetat, Übertretung und Sünde vergibt: Aber ungestraft lässt es niemanden, sondern die Missetat der Väter wird heimsucht an Kindern und Kindeskindern. Bis ins dritte und vierte Glied. Und Mose neigte sich eilends zur Erde und betete an und sprach: Hab ich, HERR, Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der HERR in unserer Mitte, denn es ist ein halsstarriges Volk; und vergib uns unsere Missetat und Sünde und lass uns dein Erbbesitz sein. Und der HERR sprach: Siehe … wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde.

2) Und nach etlichen Tagen ging Jesus nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das WORT. Und es kamen einige, die brachten zu ihm einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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