Niedergefahren zur Hölle
Altes und Neues von Leberecht Gottlieb (17)
Um einen Menschen recht zu verstehen, lerne am besten seine Freunde kennen. Nur deshalb haben wir weiter oben einiges von Friedrich Diethold Plan erzählt. Er war der beste Freund unseres Leberecht, von dem nun weiter berichtet werden soll. Wir sind inzwischen allerdings wieder in den Bereichen der sogenannten Kindheit angelangt, wo sich alle Wege des Menschen auszudifferenzieren beginnen und jene anbahnen, die wir gehen werden, weil das Schicksal des Allerhöchsten uns dazu zwingt und drängt. Wer nun eigentlich war dieser Leberecht Gottlieb in eigenster und innerster Person?
Nun - der Knabe entstammt der Welt des Deutschen Evangelischen Pfarrhauses. Damit war er also ein Pastorensöhnchen - und zwar war er dieses durch und durch. Mindestens ein Drittel aller biographisch interessanten Leute des 19. Jahrhunderts nahm ihren Anlauf in Richtung Berühmtheit und Stellung übrigens aus dem hochspeziellen Milieu des Pfarrhauses. Über seinen seltenen Vornamen ärgert Leberecht sich seit er denken konnte - genauso wie der spätere Freund Friedrich Diethold, von dem wir eben gehört haben. Pfarrers Kinder - ja. Aber nein - warum immer mit diesen komischen Namen? Alles was er war, war Leberecht durch die sächsische Evangelisch-Lutherische Kirche. Nach dem Gottesdienst beispielsweise zählte der Knabe Leberecht die Kollekte, welche er vorher gemeinsam mit einer greisen Kirchenältesten hatte vor dem großen Gebet einsammeln dürfen. Freilich, unterschreiben durfte man als Kind in dem großen Sakristeibuche noch nicht. Aber die lieben Zahlen hatte Leberecht noch vor dem regulären Schulbeginn auf dem Münzbrett der Sakristei bereits kennengelernt. Die stolze Eins, die Zwei, die wie ein Schwan aussah, die Fünf mit dem dicken Bauch, die Zehn, die Zwanzig und die Fünfzig, welche dem Knaben als Zahlen beide nur Variationen der stolzen schwangestaltigen dicken Ziffer bedeuteten. Die Einhundert und einmal auch die Zweihundert. Eine Zwei mit zwei Nullen dran. Leberecht läutete die Glocke, verteilte Handzettel mit herzlichen Einladungen in den Häusern des Dorfes hin und her, betätigte den Orgelblasebalg, – aber nur dann, wenn der elektrische Strom abgesperrt wurde, was im Winter hin und wieder auch einmal geschah.
In der wüsten Konfirmandenunterrichtsgruppe, zu der er gemeinsam mit seinem Vater regelmäßig einmal in der Woche vom elterlichen Pfarrhaus hinüber in den kleinen Betsaal zu wandeln hatte, versuchte er dem armen hilflosen Mann dergestalt beizustehen, dass er sich in die letzte Reihe setzte und von dort aus versuchte, wenn auch ohne rechten Erfolg, die allerlosesten Rüpel mit Zischen und Räuspern zu mahnen. Leberecht fuhr am Karfreitag nicht mit in die nahe gelegene Kreisstadt zu Sportwettkämpfen, obwohl er in turnerischer Hinsicht recht begabt war – durch dieses Fernbleibenmüssen hatte er manche Medaille nicht errungen.
Aber was das Besondere war, Leberecht griff schon als Zehnjähriger in die dogmatischen Streitigkeiten und lehramtlichen Auseinandersetzungen seiner Kirche ein. Und das kam so. Eines Tages erzählte Leberechts Vater, Martin Gottlieb, Pfarrer im sächsischen Pottsitz, dass es nun endlich soweit sei. Das schwierige Glaubensbekenntnis nämlich würde an seinen extremsten Stellen abgeändert werden. Überall im deutschsprachigen Raum käme ein neuer und viel besserer Text zur Verwendung. Kommissionen hatten in vielen Sitzungen und erlesenen Gremien beraten und sich schließlich sogar einigen können. Es würde nun beispielsweise nicht mehr heißen: „Niedergefahren zur Hölle“. Es würde von nun an etwas anderes gesprochen werden: „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“. An diesem Tag, für den kleinen Leberecht wurde es ein schwarzer Tag, gab es Sauerbraten mit Klößen und Rosenkohl. Es war der sechste Sonntag nach dem Trinitatisfest, man saß bei Tisch, als der Vater die Änderung des alten Bekenntnistextes verkündete. Der Gottesdienst war vorüber und die Familie hatte eigentlich einen schönen und entspannten Nachmittag vor sich. Man würde vielleicht „Mensch ärgere Dich“ spielen (wie dieses sub contrario bekannte Spiel in der Familie Gottlieb liebevoll genannt wurde) und am Abend eventuell gemeinsam ein wenig mit den Blockflöten und dem Violoncello musizieren.
„Niedergefahren zur Hölle klingt jedoch viel schöner“ warf der kleine Leberecht ein. „Aber die Leute verstehen es nicht!“ war die kurze und bestimmte Antwort des Vaters, der mit vollen Backen kauend seinen Sohn nun daran erinnerte, wie gerade während der letzten Konfirmandenstunde der dicke Bertl, vierter Sohn des Tischlermeisters Mulps aus Pottsitz, das Wort „Hölle“ ausgerufen, jene mittelalterliche Vokabel, und den Teufel selber nachgeahmt, indem er beängstigend mit den Augen rollend und der rechten Hand am Gesäß einen Schweif vortäuschend und der linken ein Horn am Kopf imaginierend – wie er also auf diese Weise durch den niedrigen Betsaal, in dem der Unterricht stattzufinden pflegte, gesprungen, gehüpft und gehopst war, sehr zum Gaudi aller Mädchen und Jungen.
„Die Leute verstehen sowieso nichts“ sagte Leberecht leichthin – er war etwas vorlaut und altklug, worauf seine Mutter Ernestine Gottlieb geborene Tafelstein heimlich stolz war, und mit diesem Stolz die Neigung ihres Sohnes zum Vorlauten, ohne dass dieser davon bisher es merken konnte, zu verstärken half. Ja, aus ihrem Leberecht würde einmal etwas ganz Besonderes werden, da war sie sich Ernestine Gottlieb ganz sicher.
Leberecht aber war in der Tat darüber sehr bestürzt, wie der edle Name jenes geheimnisvollen Platzes, der Hölle also, aus dem Bekenntnis sollte getilgt werden und zwar schon bald, schon vom nächsten Sonntage an. Unglaublich! Man muss dazu wissen: Leberecht stellte sich die Hölle recht gern vor. Herr Aides, der dort ziemlich uneingeschränkte Vollmacht hatte, war für den Knaben kein dunkler derber Gesell; nein, im Gegenteil! Aides leitete die Teufel an, welche ihre Arbeit deshalb auch ernsthaft und mit viel Pflichtgefühl zu versehen vermochten. Tag und Nacht. Die Arbeit bestand darin, Seelen von hierhin nach dorthin zu führen, unsinnige Fragen der in der Hölle anwesenden Schatten von Zeit zu Zeit geduldig zu beantworten oder als unsinnige Fragen eben abzuwehren. Auch die auf der Erde vollbrachten Werke und Taten zu betrachten helfen – und danach zum Bereuen zu ermuntern, weiter die unzähligen Schulden und auch die Sünden der Menschen, miteinander so geschickt zu verbinden, dass sie sich gegenseitig zu entlasten beginnen mussten – um eines Tages einander tatsächlich fast die Waage zu halten, so dass der Erzengel Gabriel, wenn er denn einmal kommen sollte (und davor hatte man größten Respekt in der Hölle) nur noch ein wenig mit dem Ringfinger nachhelfen müsste, damit die eine Seite der Waage nach oben sich hob – und der Delinquent gerettet oder letztlich doch auf ewig verdammt werden müsse. Dafür waren die Teufel in der Hölle samt und sonders gemäß der Hierarchie, in der sie eingeordnet worden waren. Auch die Teufel waren auf diese weise Diener Gottes. Nur eben ganz besondere …
In die Hölle des kleinen Pastorensohnes Leberecht kam auch nicht jeder hinein. Die Hölle war ein anspruchsvoller Ort und recht eigentlich exklusiv und elitär. Irgendwie glich sie in ihrer Ausstattung fast der Krypta in der Pottsitzer romanischen Kirche. Dort unten hörte man keinen Laut von draußen herein schallen, es brannte immerfort eine mit der Frequenz von 50 Hertz vibrierende Notbeleuchtung, die ihr kühles Licht auf die grob verputzten Wände warf, – Tag und Nacht. Die Hölle Leberechts war eigentlich eine eigenartige - Helle.
Und alles das nun, was je einmal auf der lieben Welt gewesen war, blieb auch hier in der Helle liebevoll erhalten. Jede Maulwurfsgrille, jeder noch so armselige Ackerkeim, der, kaum hatte er das Licht der Welt erblickt, niedergetreten und ausgelöscht worden war, alles hatte hier unten in der Leberechtschen Helle seine bleibende Schattenstatt finden dürfen. Jeder Mensch, ob gut oder böse, kehrte schließlich hier ein, sei es für geraume Zeit, für lange oder auch für immer - das war der Ernst dieses Ortes! Und auch dann, wenn einer etwa weiterreisen mochte gen Himmel, über welchen Ort Leberecht vergleichsweise weniger Ausführliches wusste, ließ derselbe zwangsläufig hierselbst eine Art Schatten des Schattens zurück oder aber verschmolz mit demselben ein für alle Mal auf geheimnisvolle Weise, dann nämlich, wenn die Auffahrt in das Elysium eines diesbezüglichen Ratschlusses des ewigen Vaters wegen nicht oder zumindest vorerst noch nicht ganz sofort verstattet werden konnte bzw. durfte.
Zur Hölle oder Helle stieg man auch nicht hinab, sondern man fuhr dahin, vorher wurde man jedenfalls eingeholt von Charon, dem sonderbar freundlichen oder - sagen wir es ruhig so, wie es ist - unfreundlichen Fährmann, der einen (so war es schon immer Usus gewesen) gegen lächerlich geringen Obolus auf dem still dahinziehenden Strom eben genau zu jener Hölle, die jetzt aus dem alten Bekenntnisse gelöscht und mit irgendeinem kalten Reich des Todes ausgetauscht werden sollte, hingeleitete. Scharf am Cerberushund mit den bersteinfarbenen Augen vorbei, welcher schweifwedelnd jeden Neuankömmling begrüßt und der so überaus gerne Honigkuchen frisst und alle diese Tätigkeiten dreiköpfig versieht. Nein, – diese Hölle durfte man nicht fortschweigen, indem man sie mit neumodisch holperigen Genitivkonstruktionen aus dem Sprachgesang der Kirche tilgte, – und danach auf schlimmste Art mit dem grässlichen Tod in Verbindung brachte. „Reich des Todes“. So ein Unsinn. Der Tod war ja schon auf Erden geschehen. Das ganze widerliche Spucken und Würgen, die Atemnot und der Gestank jener beim Sterben manchmal anfallenden Säfte und Substanzen war ja schon längst vorbei, wenn man den Strom zur Unterwelt hinab glitt - bzw. dessen Gewässer auf der ehrwürdigen Barke des Anubis (Leberecht hatte einen starken Zug in Richtung eines späthellenistischen Synkretismusin) in erhabener Reiselust befuhr. „Reich des Todes“, – wie beschämend. Die Welt ist wohl das Reich des Todes, – da mochte etwas dran sein. Aber die Sphäre des Aides doch nicht! Die Welt ja, – da starben dauernd die Lebewesen auf das Allerkläglichste. Das war bekannt. Alle Wesen fraßen sich und wurden selber, noch ehe sie den Fraß, der ihnen zuteil geworden war, recht verdaut hatten, von anderen erwischt und verspeist. Wie sollten die Leute, die die Hölle schon nicht begreifen konnten, ein Reich des Todes erfassen – und fröhliche Menschen bleiben können.
Es hatte noch gemischtes Kompott nach dem Sauerbraten gegeben. Das Kompott bestand an Sonntagen aus Erdbeeren und Pfirsichen, welche Frau Ernestine Gottlieb gemeinsam mit einer alten Dame aus dem Städtchen Pottsitz jedes Jahr erneut in durchsichtige Weckgläser einkochte. Was waren das für Zeiten! Weck hatte vor Kurzem Insolvenz anmelden müssen. Davon wusste der alte leberecht aber nichts. Die Nachricht des Scheiterns dieser alten Firma war nicht bis auf seine Stube im Seniorenheim gedungen. Nach dem Kompott eilte der Knabe Leberecht auf sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich zu. Seine Kammer, wo der Natur nach viele Dinge sich im Zustand des Durcheinanders befanden, ging nach Westen hinaus, so dass der Knabe, wenn er zum Fenster blickte, das Pottsitzer Gotteshaus zu sehen bekam. Neben dem Schreibtisch Leberechts, einem komfortablen Büromöbel aus der Gründerzeit, das, aus irgendeinem pastörlichen Nachlass stammend, seinen Weg hierher ins Kinderzimmer gefunden und daselbst aufgestellt worden war, stand ein nicht minder beeindruckendes Bücherrück, auf dem die verschiedensten Dinge lagerten. Natürlich auch Bücher. Alte Bücher, Winnetou etwa und anderes von Karl May, dem großen Sachsen mit der noch größeren Phantasie, Lederstrumpf, die Höhlenkinder, Gustav Schwabs für die Jugend beorgte Sagenübertragungen und, gleich neben den Fix und Fax-Heften, auch ein großer Prachtband der Dichtung des italienischen Goethe – Dante Alighieris Göttliche Komödie. In italienischer Sprache. Nun beherrschte der kleine Leberecht zwar mitnichten die Sprache dieser jenseits der Alpen gelegenen Heimatkultur des großen Dichters, welcher die Hölle in allen Einzelheiten beschrieben hatte, aber die riesige in schillerndes Leder gebundene Ausgabe war mit unzähligen kolorierten Illustrationen versehen, mit feinsten Radierungen, welche an Detailfülle und Genauigkeit, Reinlichkeit und Plastizität nichts, aber auch gar nichts, zu wünschen übrig ließen – zumal für ein phantasiebegabtes Kind, wie Leberecht es zweifellos war. Das Buch war dem Knaben ein Schatz. Er blätterte oft darinnen und lies sich von den üppigen Bildern in fremdeste Fernen versetzen. Er wusste nicht, dass Dante die Hölle, den Läuterungsberg und das Empyreum als getrennte Bereiche beschrieben hatte. Für Leberecht gehörte das alles zusammen und war als göttliche Durchdringung der Lichter und ihrer Schatten mit sich selbst ein und dasselbe. Spätestens dann, wenn der Glanz der Sterne oder des Mondes, der Sonne oder Kerzenlicht darauf fiel. Kein einzig Ding, das auf Erden war und auf Erden verging – denn was da ist, das muss ja eher oder später doch vergehen, damit es erst wirklich wird, weil es eben nur dann tatsächlich gewesen und wenn in die Vergangenheit eingetaucht in ihr verschwunden und damit bewahrt ist! – kein Ding verschwand deshalb ganz und gar. Beileibe nein, – in der Hölle wurde sein Schatten aufbewahrt durch die treuen und umsichtigen Teufel, deren Auftrag und ehrenhafter Beruf darin bestand, jedem Ding seinen wirklichen Schemen voranzutragen, nachzugeleiten und daran zu erinnern, – je nach dem, wie eben das Licht kam. Von vorn, von hinten oder von der Seite.
Leberecht, weil er den Text Dantes nicht kannte, arbeitete innerlich nur mit den Bildern des Buches. Da waren etwa scheußliche Monsterien zu sehen, die schreiende Menschen verschlangen und boshafte Dämonen, welche sich einen Spaß daraus machten, Seelen mit glühenden Werkzeugen zu zwacken. Leberecht sah das zwar alles mit wachen Augen, aber das gute Herz in ihm und seine Erinnerungen an die Predigten des Vaters Martin drüben in der Kirche bewirkten, dass seine Phantasie sich immer noch mehr zusammenreimte als das Auge es wohl sah: Diese bedauernswerten Geschöpfe seien hier auf diese Weise nur deshalb abgebildet, weil sie ja gleich jetzt, hier eben und nur hier in - aber auch aus! - der Hölle gerettet werden würden. Dafür sei das gesamte Buch ein gewaltiges Zeugnis. Die Hölle war für Leberecht nicht der Ort immerwährender Vernichtung, sondern im Gegenteil jener Platz, an dem das Heil anbrach, weil die Gequälten von den Qualen doch schon in allernächster Sekunde befreit werden würden. Und deshalb war diese Hölle auf keinen Fall irgendein „Reich des Todes!“ Im Gegenteil – sie war Helle. Licht also und anbrechende Klarheit. Wenn auch ein besonderes Licht und eine Metaklarheit. Hieß es doch im 12 Verse des Psalm Nummer 139: „Ist auch nicht Finsternis dir nur ein anderes Licht?” Leberecht vermutete, dass das Wort Hölle recht eigentlich sich von dem Begriff Helle bzw. Helligkeit herleiten müsse. Und er sprach auch jeden Sonntag während der Memorierung des gottesdienstlichen Bekenntnisses das Wort Hölle genauso aus, dass man, wenn man dicht neben ihm stand, deutlich hören konnte, dass da jemand “Helle“ gesagt hatte. „Niedergefahren zur Helle!“ Freilich, – die Leute brabbelten allesamt nur Hölle. Aber die verstanden ja auch nicht, worum es eigentlich ging. Die Leberechtsche Helle/Hölle war das Meer und die absolute Fülle immer erneut versuchten (weil göttlich angebotenen) ewigen Lebens.
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