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Zeit & Zeit
Am Ende des Kirchenjahres

Zettels Uhr

Einer alten Dame war die Uhr abhanden gekommen. Verloren oder gestohlen – wer weiß. Die Not war groß, doch die Lage nicht hoffnungslos. Was macht eine alte Dame ohne Uhr, wenn sie  Jahrzehnte lang eine gehabt hat. Eine neue Uhr musste her. Darum ging die alte Dame zum Trödler auf die Siebensterngasse und schaute sich in den Regalen nach etwas Entsprechendem um. Was gab es da nicht alles zu sehen! Lauter Dinge, die irgendwer irgendwann nicht mehr gebraucht und deshalb fortgegeben hatte. Aussortiert und zum Trödler. Auch Uhren gab es. Kleine und große, helle und dunkle.

Eine dieser Uhren war aus Porzellan und zeigte zwei Einhörner, die sich mit ihren Hörnerspitzen fast berührten. Zwischen den Hörnern war ein gewisser Abstand - von ungefähr ein paar Zentimetern. Die Einhörner hatten sich einander zugewandt und bäumen sich auf. Zwischen ihren insgesamt vier Vorderhufen hielten sie ein Kreisrund. Dasselbe war leer – aber in dieser Leere war einmal eine Uhr befestigt gewesen. Mit den Hinterhufen stemmten sich die Einhörner gegen den stetigen Drang der Zeit, sich im Sande zu verlieren. Das Uhrwerk war irgendwann einmal herausgefallen und selber verloren gegangen, irgendwann, irgendwo, irgendwer. 

„Diese hier“ sagte die alte Dame zu dem ebenso alten Trödler „gefällt mir. Was soll sie kosten?“ Der Trödler nahm die Porzellanuhr vom Regal und schaute auf ein verblichenes Zettelchen. „Das ist die Uhr vom alten Zettel“ meinte er. Wissen's, wer der alte Zettel gewesen ist? Er war ein Buchhändler – und die Uhr stand immer auf seinem Schreibpult. Sie ist unbezahlbar, aber Gnädiger Frau gebe ich sie für 1.000 Schilling ab. Einhörner sind angeblich längst ausgestorben. Ich glaub's aber nicht. Der Abstand zwischen den Hornspitzen ist wichtig. Dort hat der alte Zettel immer seine unbezahlten Rechnungen eingeklemmt. Dadurch kam Geld rein – irgendwie. Und er konnte bezahlen. Sehr sonderbar. Nehmen Sie die Uhr mit. Wenn Sie 1.000 Schilling haben, einfach herbringen. Gnädiger Frau Name lautet?“

Da sagte die alte Dame - die ihren Namen eigentlich nie preisgab - dem Trödler, dass sie Roswitha Aschauer heiße und in der Mariahilferstraße 153a wohne, aber ihren Namen und Adresse dürfe sie keinem verraten. Der Trödler nickte verständnisvoll. Da nahm die alte Dame die Uhr und kehrte nach Hause zurück. Hier schrieb sie die Zahl Tausend auf ein Papier, machte das Schillingzeichen dahinter und faltete den Zettel solange sorgsam immer weiter zusammen, bis ein kleines Päckchen daraus geworden, welches zwischen die beiden Hörnerspitzen einzuklemmen war. Die Hörner sahen aus wie Uhrenzeiger,  welche in die unterschiedlichen Richtungen des Unendlichen wiesen. 

Als die tausend Schilling eines Tages zusammen gekommen waren - niemand weiß, wie das zuging -  da wollte die alte Dame den Trödler auszahlen. Und danken für die Wunderuhr, die neben der Zeit auch Unendlichkeit anzeigte. Doch den Trödeladen gab es nicht mehr. Vielleicht  begegnest du eines Tages dieser Uhr. Auf einem Markt - oder im Anderswo.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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