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Oktoberrätsel
Gäste in der Stadt

… das große  Lutherjubiläum war lange schon zu Ende. Aus und erloschen seit 2017. Wie damals bereits Trojas Krieg hatte der landesweite Protestanten-Agon zehn Jahre gedauert. Martins Stadt an der Elbe dämmerte inzwischen wieder träge vor sich hin. Aber nicht ganz - denn verlässlich nahte auch 2022 der jährliche Reformationstag mit Halloween, Allerheiligen und Allerseelen. Diesmal gab es zusätzlich noch rätselhafte Ankündigungen betreffs einer notwenigen Reformation 2.0.

Die Medien haben damals ihr Kirchen-Bashing recht schnell wieder aus den Feuilletons genommen - und da war die ganze Sache vorbei!“ meinte Peter. Tom nickte. Der Philosoph aus Karlsruhe nippte am Espresso - vor dem Musiker glitzerte das halbvolle Grappaglas: „Die Probleme geben sich derzeit die Klinke in die Hand" meinte er und fügte hinzu: „Und die Reformatoren haben es sich im eigenen Koma bequem gemacht!"  Peter: „Der Staat lässt alle wissen, dass er die Samthandschuhe gern wieder überstreifen wolle. Sowohl auf die gebende als auch nehmende Hand. Indessen kleben sich die schrecklichen Kinder der Neuzeit als Klimamärtyrer mit Sekundenleim auf die asphaltgrauen Zufahrten zu Kraftwerken und Krankenhäusern. Was früher Kruzifix war - ist heute Kittifix geworden.“

Ich hatte das Gespräch der zwei alten weißen Männer mit anhören dürfen, denn ich saß wie sie auch in der kleinen Eisbar nahe der Stadtkirchenecke - den beiden Pilgersleuten aber mit dem Rücken zugewandt. Tom und Peter schauten prophetisch-gelassen aus den Fenstern zur Collegienstraße hinaus.  Ich bin gerne im Dolce Vita der Thesenstadt Friedrich des Weisen. Meine Wahl fällt fast immer auf den „Waldbecher."  Über der Tür, welche vom Eisparadies hinaus auf die Gassen der Wirklichkeit des ehemaligen Universitätsstädtchens führt, breitet tatsächlich der Jesus am Kreuz seine Arme versöhnend aus. Italiener sind fromme Leute.

Peter meinte: „Von deinen Sachen gefällt mir besonders ‚I want to come home'. Wo sind wir eigentlich, wenn wir Musik hören?"  Tom: „Irgendwo in der anderen Welt. Hast es in NACH GOTT nicht besser beschreiben können. Eine Waffe gegen den neureligiösen Blödsinn unserer Zeit.“  Der Karlsruher: „Sag nicht Waffe. Sag Instrument. Damit der Metagott im Denken sich wohlfühlen kann, kommt es auf jedes Wort an, besonders auf die richtigen Präpositionen.“
                                                               
    PAUSE

„Die Kirchen sollten deine Gedanken in Fürbitten umwandeln“
meinte der Sänger mit rauchiger Stimme. Doch der unfrisierte Philosoph: „Unnötig. Deine Lieder bringen den Himmel gut genug zum Sprechen!“  Tom: "Um diese Zeit kam ich incognito schon oft nach Wittenberg. Die Oktobernächte vor Halloween - da fällt der unsichtbare Schatten der Türme auf ganz besondere Weise in die leeren Eisbecher auf den Plastic-Regalen. Spirit in the room.“  Sie lächelten und zahlten. Als man unter dem gütigen Blick des Gekreuzigten hindurchschreitend das Café verließ, hatte draußen auf der Straße seit ein paar Minuten ein seltsames Drängen und Lärmen begonnen.

Ich konnte gerade noch hören, wie Peters Urteil im Blick auf das Getöse ausfiel: „Es geht los. Anders, als es bisher guter Brauch gewesen ist, will sich die Neugeburt der Reformation im Jahre 2022 aber wohl nicht mehr aus der Wärme rosig-südlicher Sonnen in arkadischer Schönheit vollziehen. Offenbar trachtet der sich hierher nach Wittenberg verirrte Weltgeist mit aller Gewalt danach, sich diesmal unter dem Schein  blaufabelnder Nordlichter entbinden zu lassen. Das erfreut zwar weniger - ist aber nicht uninteressant.“  

Beide lachten und waren nun gänzlich auf den Bürgersteig hinausgetreten. Die Tür schwang zurück ins Schloss. Es war das bittere Lachen gewesen, wie alte Männer es hören lassen, wenn die  Dinge wieder einmal am Scheideweg stehen und sich dunkel anblicken.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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