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der Rabe
Geburtstagsgabe (22)

Und nun singt uns der Rabe Korax etwas zum Thema Luther und zu dessen Bibelübersetzung bei Matthäus 4.1ff

Ich bin der Rabe. Es gibt seit frühesten Zeiten einen Streit darüber, wer der Klügere ist. Ich oder die Eule. Der Adler sagt, ich sei der Cleverere und die Eule die Weisere. Diese Frage ist aber in Wirklichkeit noch nicht ganz entschieden. Zeus selber wird richten müssen. Damit aber eine Sache nicht noch vergessen wird (denn die Eule versucht, sie seit Jahrtausenden zu verschweigen), gebe ich dieselbe Euch hiermit zu wissen. Ich schreibe Euch allen diesen Brief und hoffe, dass der auch bekannt wird. Es dreht sich thematisch um das alte Problem zwischen Gut und Böse, und um die Abgründe zwischen eigener menschlicher Leistung und göttlich bewahrender Gnade.

Ihr habt sicher davon gehört, dass ich viel herumkomme, während die Eule immer nur in Naturlandschaften herumlungert, was die vielen Schilder beweisen, auf denen ihr Bildnis zu sehen ist. Ich dagegen bin unterwegs und kenne die Welt. Ich flog einmal (gerade eben, als ich mir selber hinterher flog) hinter mir her. In diesem Zustand höchster Aufmerksamkeit war mir die Gnade vergönnt, die ewigen Gespräche der wirklich Großartigen zu belauschen.

Es war irgendwo über der palästinensischen Wüste. Da unten fastete ein Mann seit vierzig Tagen und wollte sich auf diese Weise derart durcheinanderbringen, dass er dem Teufel, sich selbst oder Gott begegnen würde, - was auch immer das alles sein könnte. Wem nun in erster Linie seine Begegnungswut galt, - das war von oben her durch mich nicht genau herauszufinden.
Dieser Mann hieß Jehoschua - und er rief einen anderen, der dann tatsächlich wie aus dem Nichts neben ihm auch auftauchte. Etwa so, wie auf einer feuchten Wiese, die eben noch von der Sonne beschienen wird, sich Nebelschwaden bilden, wenn die Sonne plötzlich hinter den Wipfeln des Waldes versank. Die Beiden kamen folgendermaßen ins Gespräch. Ich höre es noch heute:

Jehoschua: „Wenn du wirklich der Versucher bist, dann verführe mich doch erstens dazu, Steine in Brot zu verwandeln, zweitens mich von der Zinne des Tempels herabzustürzen und am Ende auch noch deine Macht anzubeten.“

Die Nebelgestalt reagierte auf diesen Ruf erst einmal gar nicht. Erst nachdem der Fastende zum dritten Male auf diese Weise provoziert hatte, ließ der Neblige sich zu folgender sinngemäßen Antwort hinreißen:

Nebelgestalt: „Ich werde deinen Wunsch nicht erfüllen, denn du würdest das alles bestimmt ablehnen. Alles, was ich dir laut deinem Auftrag anraten müsste, zu tun, würdest du nicht tun! Weil du nämlich meinen musst, jemand anderes als du selbst führte dich dreimal in Versuchung. Aber, da du nun selber schon so tief in dir um alle diese Möglichkeiten weißt und selber die drei großen Fragen kennst, auf die es wirklich ankommt, wirst du ihrer großen Kraft vielleicht doch eines fernen Tages noch erliegen müssen - oder vielleicht sogar wollen. Meine geniale Versuchung bestand darin, dich selber dreimal fragen zu lassen, so dass du diese Fragen nie mehr vergessen kannst.“

Ich dachte: „Oha,- die sind aber dicht dran an der animalischen Seele und ihrer Wahrheit!“ und machte mich schnell davon, ehe sie mich womöglich noch entdeckten und bannten, wie ich mich beim Mirselbsthinterherfliegen beobachtete. Ja nun - am selben Tag noch segelte ich bis hin nach Eisenach, um meine Base, die Dohle, zu besuchen. Wir verstehen uns gut, und es gibt zwischen uns ein inniges Verhältnis. Wir setzten uns beide zusammen auf den Fenstersims eines Turmzimmers der dortigen Burg und schnäbelten ein bisschen miteinander, wie es bei Vögeln eben gern üblich ist. Da hörten wir, wie hinter der Scheibe ein anderer sonderbarer Mann mit sich selbst zu erzählen begann. Und zwar sprach er also:

Luther: „Nun, Junker Jörg! Frisch auf ans Werk. Der Böse soll vor meiner Tinte zittern. Ich will wohl seine Listeneien in unser liebes Deutsch flugs übertragen. Wo waren wir denn gestern steh´n geblieben? Ach hier. Steine zu Brot, Sturz von der Zinne, Anbetung seiner großen Macht.“

Ich rief und rief und schrie, dass das alles noch viel raffinierter sich zugetragen hätte. Ich sang mir die Seele aus dem Leib. Und gab da draußen die wahrhaftige Urversion der Geschichte immer wieder zum Besten. Allein, - der Mann war verstockt wie ein Stein. Wahrscheinlich ist er doch nicht so sprachkundig gewesen, wie man ihm heute immerzu andichtet, denn die Zungen der weisen und klugen Vögel kannte er offenbar gar nicht. Er hat ja alles so gelassen, wie es in den Büchern nur mit den Buchstaben immer schon aufgeschrieben stand. Er hat den innerlich lebendigen Geist dieser besonderen Begebenheit in der wirklichen Wüste wohl nicht wirklich verstanden …

Jedenfalls - Luther (so hieß dieser Jörg nämlich mit bürgerlichem Namen) hörte nicht auf uns Tiere, sondern verjagte in echt menschlicher Art mich und meine Base von dem Fensterbrett. Wir fanden aber an diesem Nachmittag am Fuße der Burg noch ein Stück Limburger im Abfall. Deshalb habe ich diese Sache wohl auch nicht ganz vergessen. Denn man merkt sich meistens das, was wirklich wichtig ist.
Die Eule merkt sich vielleicht andere Dinge. Weil: Sie war noch nie wirklich in der Wüste aller Wüsten, das ist die Wüste des absoluten Geistes. Sondern, - sie schläft meistens verborgen in Eichen und frisst unvorsichtige Mäuse.

Korax - Rabe

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andere Tierbriefe hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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