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Volkstrauertag 2024
keiner lebt oder stirbt für sich allein ...

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Wir wollen heute am Volkstrauertag ein paar Verse betrachten. Von Johann Gottfried Herder stammt das Buch, welches man nach dem Tod des Weimarer Generalsuperintendenten STIMMEN DER VÖLKER IN LIEDERN nannte. Herder hatte ernsthaft gemeint, man könne den Charakter eines Volkes einigermaßen gut an seinen Liedern ablesen und auch erfühlen. Hier ein Text aus einem Deutschen Gesangbuch:

„Dass wir Deine Herrlichkeit
können recht erfassen,
wirfst Du über uns das Leid,
führst uns dunkle Straßen.”

Wer von uns hat sie überhaupt jemals gekannt - diese erste Strophe eines protestantischen Kirchenliedes aus dem Jahr 1937, das eigentlich ein Gebet sein wollte. In den heutigen Gesangbüchern fehlt der Text dieses Liedgebetes. Gerhard Fritzsche hat ihn an der Schwelle zum Weltkrieg  gefunden oder erfunden und Gerhard Häußler setzte die Musik dazu.

Man hat diese Verse in die Predella der Gedenktafel für die Gefallenen des 2. Weltkrieges eingegraben. Wo? In dem kleinen Ort Bülzig, der zum Kirchenkreis Wittenberg gehört. Dort wollte man nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wohl kein zweites Gefallenendenkmal draußen auf dem Dorfplatz errichten lassen - oder durfte es nicht. Und da hat eben die Kirchengemeinde den Namen jener gefallenen oder vermissten Männer von 1939-45 einen Platz im Gotteshaus des Dorfes gegeben. Es wird weiter Aufgabe bleiben: Keinen zu vergessen, der sein Leben hingegeben hat, hergeben musste oder dachte hergeben zu müssen. Wo überhaupt ist da letzten Endes auch ein wirklicher Unterschied für die, die davon betroffen gewesen waren, heute betroffen sind oder morgen betroffen sein werden? Wir alle sind ja angekettet an die Verstrickungszusammenhänge unserer jeweiligen Lebenszeit - damals und heute. Neben der Kirche mit dem Gesangbuchvers steht aber draußen auf dem Dorfplatz noch das Kriegerdenkmal aus früheren Zeiten: Für die Gefallenen aus dem Krieg 1914-1918. Alle Namen sind hier verzeichnet. Auch ein Spruch ist dabei. Ein Obertertianer namens Reinhold Samuelsohn hat ihn gefunden. Zweiter Text:

Sie opferten Zukunft und Jugendglück,
sie kehrten nie wieder zur Heimat zurück
für uns!

Sie gaben ihr Alles, ihr Leben, ihr Blut,
sie gaben es hin mit heiligem Mut
für uns!

Es gibt kein Wort für das Opfer zu danken
und es gibt keinen Dank für sie, die da sanken
für uns!

Nach dem Zusammenbruch 1945 haben die neuen Volksführer in der SBZ Samuelsohns Text entfernen lassen. An der verwaisten Stelle wurde ein anderer Denkspruch angebracht. Nun lautete der Text: DIE TOTEN MAHNEN (Großbuchstaben und die in deutscher Fraktur). Was diese Mahnung nun genau aussagt, bleibt im Verborgenen. Es kann heißen: „Jungs, lasst die Finger vom Krieg.” Oder auch: „Wir haben da noch eine große Rechnung offen!”

Alle drei Sprüche sind heute noch zu lesen, die Kirche ist innen sowieso immer geschmückt - und von Zeit zu Zeit liegen draußen sogar Blumen am Fuße des in kyffhäusischer Völkerschlachtsdenkmalmanier errichteten Dorfmonuments aus der Weimarer Zeit. Es gab da eine alte Bäuerin in Bülzig, die konnte sich an den Spruch des Obertertianers noch erinnern. Und so ist derselbe 1991 dann wieder angebracht worden. Beide Sprüche, der des Jungen mit dem schönen Namen Samuelsohn und die Totengeistertafel von den mahnenden Manen - sind die ersten Schriftbotschaften, welche den Wanderer begrüßen, wenn er vom Bahnhof kommend das kleine Dorf Bülzig betritt. Führt ihn sein Weg dann gar in die Kirche St.Katharina, liest er auch davon, wie Gott angeblich nichts unterlässt, damit wir seine Herrlichkeit recht erfassen können: Er benutzt nämlich sogar das Leid als pädagogisches Mittel und wirft es über uns wie ein Festgewand. So könne man meinen, so könnte man missverstehen. Und manche möchten es genau so missinterpretieren und deshalb die Kirche mit ihren Liedern und Texten verdammen.

Doch es ist alles ganz anders. Freilich - jene drei Sprüche (die draußen vor der Tür und der im Inneren der Kirche) werden von der Kraft des Paradoxalen getragen: Rätsel, Opfer, kein Dank. Aber mit Hilfe solcher Aussagen, die in der Großerzählung der christlichen Kirche und ihrer Sakramentsfeiern gebändigt als feierbare Ordnung vorliegen und die uns auf unserem Weg stützen, so dass wir an der Tatsache des begrenzt sterblichen Seins nicht verzweifeln, mit dieser Hilfe können wir demütig niederknien und leise „Amen!” sagen. Genauso ist das.

Die Leute, die an den Straßengräben auf der Flucht gestorben sind, in den Schützengräben umkamen - wenn man sie alle nur nicht vergisst, muss gar nicht von viel Schlimmerem noch geredet werden - sie alle haben in den letzten Sekunden ihres Lebens zum Himmel geschaut. Durch den Pulverdampf und den klirrenden Frost mag ihnen ein Stern geglänzt haben. Johann Sebastian Bachs Arie „Bist Du bei mir!” tröstet jeden, der sterben musste. Diese Musik oder ein anderer Spruch aus der Bibel, wenn man ihn, wenn auch nur bruchstückhaft, erinnern wird ... Hier im Folgenden gut zu hören. Dritter Text:

„Bist du bei mir,
geh ich mit Freuden
zum Sterben und zu meiner Ruh.
Ach, wie vergnügt wär so mein Ende,
es drückten deine schönen Hände
mir die getreuen Augen zu.“

Text: Gottfried Heinrich Stölzel: Diomedes. Musik J.S.Bach

Und nun am Schluss noch ein sehr großer und weiter Sprung zurück in die Vergangenheit. Hier der vierte Text aus Griechenland und aus der Ilias des Homer: 

„Göttin, besinge den Zorn des Achilleus.
Unzählig Leiden bewirkt er,
und sandte die Seelen der Helden
zum finsteren Hades hinunter.
Die Knochen blieben den Hunden,
die Leiber den Vögeln zum Fraße.“

Das ist der Beginn von Homers Ilias. Europa und die Trojaner stehen sich feindlich gegenüber - der Grund war lächerlich. Es ging nämlich nur um eine Frau - wenn auch um die schönste. Millionen Gymnasiasten haben mit der Lektüre des trojanischen Krieges ihre Schulzeit zubringen müssen. Am Anfang der sogenannten klassischen (oder humanistischen!) Bildung standen eben auch lange die aus der Welt des Zorns gesandten Kriegs-Phantasien. Erst brennen die Herzen, dann die Städte. Danach irren die Heimatlosgewordenen in den Trümmern umher. Man hat gesagt, der Trojanische Krieg sei die tiefgründigste Symbolgeschichte einer genetischen Erz-Feindschaft zwischen Asien (vertreten durch Troja) und Europa (vertreten von Griechenland/Sparta).

Die Griechen siegen schließlich - freilich nur durch List vermittels erzwungenen Verrats. Rückzug vortäuschend verbergen sie ihre Besten in einem als Opfergeschenk getarnten hölzernen Standbild. Die Trojaner als fromme Leute holen sich das Ding in ihre Mauern. Nachts kriechen die Krieger aus der Figur, öffnen das Stadttor und zerstören die Stadt gründlichst.

Der Zorn vom Beginn des großen Epos’ endet am Ende in der Wut der Sieger. Mütterchen Natur hat es so eingerichtet, dass Wut, Hass und Zorn am Anfang immer mit größerer Macht ausgestattet sind als der kleine göttliche Bastard Liebe. Hass, Zorn und Wut funktionieren von selbst. Die Liebe braucht Unterstützung, denn sie hat keinen Wurzelgrund im Vegetativen, sondern im Himmel.

Als man das bemerkt zu haben glaubte, nahm man die Ilias immer häufiger aus den Lehrplänen höherer Schulen. Man entsann sich wieder mehr des ganz anderen Helden. Nicht der mit Rüstung, Schwert und Helm ist gemeint. Der Gekreuzigte mit der Dornenkrone singt seine milde Botschaft in den Kirchen - sofern die nicht die Waffen um ein paar Ecken herum doch wieder segnen wollen (oder zu müssen meinen). Das Lied Jesu ist ganz anders als der Gesang vom Zorn. Der Volkstrauertag gibt Gelegenheit dazu, allen Opfern von Hass und Gewalt jene Ehre zu geben, die ihnen zusteht. Ehre geben wir dadurch, dass wir die Gemeuchelten nicht vergessen, ihnen in unseren Herzen Platz einräumen und für sie bitten.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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