Hermann Hesses 2. Juli
Leberecht Gottlieb (84)

84. Kapitel, in welchem sich der Pfarrer i.R. Leberecht Gottlieb aus Sachsen und der chinesische Seidenfabrikant Luan Wang Li Zhang über Hermann Hesse unterhalten und dessen Roman "Das Glasperlenspiel" auf den Zustand der Deutschen Evangelischen Kirche beziehen. Und wie sich herausstellt, dass auch Ibn Jesus sich auskennt ...

Leberecht war nicht schlecht erstaunt, dem Seidenhändler hier in der Wüste zu begegnen. Auch dieser freute sich darüber, den alten Geistlichen nun endlich gefunden zu haben. Es zeigte sich bei der Erörterten des Weges bis hierher, dass Luan Wang Li Zhang einiges hatte in Bewegung setzen müssen, um den Aufenthaltsort Leberechts ausfindig machen zu können. Dabei war auch nicht ganz ohne Bestechungsgelder in Größenordnungen abgegangen - aber das sei nicht so schlimm, denn Geld spiele für ihn - Luan Wang Li Zhang - keine Rolle, seit das Geheimnis der Naturseidenherstellung aus künstlicher Seide von ihm zum Patent angemeldet und von der chinesischen Regierung sofort aufgekauft worden war.

Leberecht stellte Luan Wang Li Zhang dem Führer der Sektenkirche Ibn Jesus vor - und man kam bei Nargileh und Tee miteinander gut ins Gespräch. Während der gegenseitigen Vorstellung und Geburtsdatenabfrage stellte sich zusätzlich heraus, dass Luan Wang Li Zhang am 2. Juli Geburtstag gehabt und vor ein paar Monaten 60 Jahre alt geworden war. "Der 2. Juli - das ist doch der Geburtstag Hermann Hesses" rief Ibn Jesus begeistert - und damit sprach er die Wahrheit. Ibn Jesus hatte nämlich nicht nur den gesamten Karl May gelesen, sondern auch einiges von Hesse. Auf jeden Fall den Steppenwolf, Unterm Rad und vor allem Das Glasperlenspiel. Gleich wartete er mit einigen auswendig gelernten Passagen aus diesem gewaltigen Werk auf und dann saß man bis zum Abend zusammen und Eins gab das Andere. Es ging um Gott und die Welt, das Klima und gute Literatur. Unsere Leser wollen wir an der gelehrten Unterhaltung der drei Männer teilhaben lassen. Denn Luan Wang Li Zhang kannte natürlich den berühmten Autor ebenfalls - er hatte über die Struktur des Glasperlenspiels im Vergleich zum chinesischen Buch der Wandlungen - auch I-Ging genannt - promoviert. Leider glitt das Gespräch dann aber irgendwann zu einem Scherbengericht über die deutschen Amtskirchen ab. Der Ehrlichkeit halber wollen wir dem interessierten Leser die Hauptgedanken diesbezüglicher Kritik an dieser Stelle nicht vorenthalten.

Mit folgender Bemerkung von Ibn Jesus begann das Ganze: "Der Meister des Glasperlenspiels Joseph Knecht übersetzt in Hermann Hesses gleichnamigem Roman folgenden von Albertus Secundus stammen sollenden kleinen lateinischen Text. Hört einmal genau hin - denn damit ist alles gesagt:

„Denn mögen auch für leichtfertige Menschen die nicht existierenden Dinge verantwortungsloser durch Worte darzustellen sein als die seienden, so ist es doch für den gewissenhaften Geschichtsschreiber gerade umgekehrt: Nichts entzieht sich der Darstellung durch Worte so sehr und nichts ist doch notwendiger, den Menschen vor Augen zu stellen, als gewisse Dinge, deren Existenz weder beweisbar noch wahrscheinlich ist, welche aber eben dadurch, dass gewissenhafte Menschen sie als seiende Dinge behandeln, dem Sein und der Möglichkeit des Geborenwerdens um einen Schritt näher geführt werden.“

Alle sannen diesem Worte begeistert nach. Dann warf Leberecht ein: "Zugegeben, - Hesses Roman Das Glasperlenspiel wartet mit Herausforderungen auf. Eine davon ist einfach 'Durchhalten'. Man darf die Flinte nicht ins Korn werfen. Gerade das aber geschieht leider häufig auch gerade dort, wo der Kirche Verantwortung für die nichtsichtbaren Dinge aufgetragen worden ist. Die Präzision im Denken, die Beharrlichkeit und Mühe, gerade über das zu reden, was nicht gleich von allen sofort kapiert wird und nicht zuletzt der stoische Mut angesichts der leider zu konstatierenden Dummheit der Vielen, die sich immer sofort abwenden, wenn es schwierig wird - diese drei Tugenden haben sich auch im Raum der Kirche rar gemacht. Weil die Leute es angeblich nicht verstünden (oder nicht verstehen dürfen!), fing man irgendwann an nur noch so zu reden, dass es jeder angeblich gleich begreifen können müsste. Auf diese Weise wurde den Zuhörern aber schließlich nichts Neues mehr bekannt gemacht - und in Folge dessen sank das Niveau, verkam ein großer Teil der theologischen Begriffswelt und Begründungskunst - und mutierte sich schließlich die einstige ECCLESIA TRIUMPHANS zu einem weiteren jener Vereine hinab, welche ihre Aufgabe hauptsächlich darin sehen, irgendwas für irgendwelche benachteiligten Menschen irgendwie und irgendwo zu unternehmen. Eine schleichende Infantilisierung der Botschaft ging damit Hand in Hand."

Und Luan Wang Li Zhang ergänzte leise und zurückhaltend (denn die gebildeten Asiaten sind einfach so): "Bei diesem verheerenden inneren Aushöhlungsprozess spielte das Sich-Anbiedern gerade bei den westlichen Kritikern der ewigen Dinge - bei den sogenannten Agnostikern - eine große Rolle. Der Agnostiker ist bekanntlich der Zyniker in der Welt der Gedanken. Er geht immer noch ein Stückchen weiter als der Fuchs in der bekannten griechischen Äsopfabel von den Trauben. Während der Fuchs dort noch behauptete, die Trauben (welche er trotz seiner hohen Sprünge nicht erreichen konnte) wären zu sauer - und deshalb wolle er sie gar nicht haben, behaupten die heutigen Agnostiker, die Trauben seien nie vorhanden gewesen. Und springen gar nicht. Faule Füchse. Sie verlangen nun sogar, wie man lesen konnte, dass die Gottesdienste abgeschafft gehörten, weil keiner mehr hinginge. Aber - ehrlich gesagt, warum denn soll man auch noch hingehen oder sich das Zeug im Fernsehgerät anschauen, wenn schon gleich am Anfang mindestens eine Frau und ein Mann, bzw. umgedreht einen ausgelassen begrüßen und irgendwelche Mädchengruppen mit bunten Schals dazu herumtanzen wie auf einem oberfränkischen Jahrmarktsfest? Wenn die Predigt dann noch sofort durchschaubaren dialogischen Unsinn aufführt und zum Schluss für solche Dinge Geld eingesammelt wird, die schon lange als grober Unsinn erkannt worden sind?"

Das war jetzt wirklich hart von dem Chinesen formuliert, so dass sogar Leberecht heiß und kalt zugleich wurde. Doch der Seidenfabrikant fuhr nun mit seiner Philioppika weiter fort: "Wie nun aber Hesse seinen Helden Joseph Knecht sagen lässt, geht es beim Denken immer gerade darum, die nichtexistierenden Dinge w i e existierende Dinge zu beschreiben, um sie ihrem Geboren-Werden im Geiste des sich mühenden Menschen anzunähern. Genau darum geht es in dem Roman Hesses und im wirklichen „Glasperlenspiel“ um so mehr. Der Romantitel wird von Leuten, die gedanklich nur kurz springen wollen, als Hohn- und Schimpfwort benutzt. Genauso wie der Begriff des Elfenbeinturms. „Das ist nur ein Glasperlenspiel” maulen sie. Und „wir leben doch nicht im Elfenbeinturm!“ Jedoch - die Elfenbeinturmbewohner und Glasperlenspieler hüten das Geheimnis des Göttlichen, - um davon (auch anderen) zu berichten. Sie lassen sich vom Gemoser aktivistischer Paniker draußen am Fuße des Turmes nicht beleidigen. Denn sie wissen von etwas, das n i c h t niedrigschwellig sein darf, weil es auf der fatalen Stufe der Niedrigkeit elendiglich verenden würde."

Ibn Jesus nickte beifällig und ergänzte: "Spätestens als die Kirche zu mutmaßen begann, die Leute bedürften irgendeiner Art Niedrigschwelligkeit, hat sie ihre eigene Botschaft (oft nur aus Feigheit) verraten. Sie hat die Flinte ins Korn geworfen, um nicht als Kriegerin für andere Welten erkennbar und bekämpft zu werden. Eine Kirche, die damit aufgehört hat, Glasperlenspielerin sein zu wollen und die nicht mehr gern von unsagbaren Dingen redet (ohne dabei zu vergessen, dass dieselben eigentlich unsagbar sind und rechterdings nur gefeiert werden können), eine solche „Kirche“ wird der - hier unterbrach er sich und schaute Leberecht Gottlieb fragend an - wird der Volkssolidarität immer ähnlicher und wird sich eines Tages auch nicht mehr von den Giordano-Bruno-Leuten, die sich Freidenker nennen, unterscheiden lassen, welche sich in der Asche dieses ehrwürdigen Märtyrers wälzen, um mit ihm verwechselt zu werden. Der aber würde sich ihrer schämen. Die Menschen wollen gar nicht nur Niedrigschwelliges, sondern - im Gegenteil: Sie wollen, dass es das Höhere gibt, und dass sich genau dafür! jemand verantwortlich fühlt und sie selber davon nicht prinzipiell ausgeschlossen bleiben, bei Bedarf im Elfenbeinturm niederzuknien, mit Glasperlen zu spielen - um Magister Ludi zu werden, wie Joseph Knecht." Er hatte atemlos geendet - und Leberecht fühlte sich nun bemüßigt, auch wieder etwas beizusteuern. Er holte tief Luft und sagte dann folgende Worte:

"Gerade auch angesichts des langsam aber sicher sich vollziehenden inneren Zerstörungsprozesses und der sich angesichts dessen noch stolz brüstenden Kirche - ich meine die von ihr in den letzten Jahrhunderten gewachsene Akzeptanz im Blick auf die entzauberte Welt - und ihre Anbiederung an eine gedankenlose Irgendwie-Modernität wurde das Christkind mit dem Bade ausgegossen. Der durchaus nicht unkomplizierte Zusammenhang des Profanen mit dem Heiligen wurde kurzerhand aufgekündigt, weil man sich des Heiligen zu schämen begonnen hatte. Nun, - die Welt hat sich zu helfen gewusst und ist mit ihrer unbestimmten Glasperlenspiel-Sehnsucht aus den Kirchenbüchern in die Kinderbücher ausgewichen. Ein Blick in die entsprechenden Regale der Buchhandlungen belehrt den Kundigen sehr rasch: Dort gibt es kaum noch etwas Zeitgenössisches, was nicht mit magischen Hexen, Elfen, Zauberei, sprechenden Tieren und dergleichen daher kommt! Oder mit dem Klimawandel - auf deren thematischer Rückseite nichts anderes beschworen wird als das Ende der Saurierzeit. Ferne gebe ich zu bedenken: Sonderbar ist - sobald die Kirche anfängt, von derlei Dingen ernsthaft zu erzählen (wie es in den ersten 1800 Jahren ihrer Geschichte selbstverständlich gewesen war), rümpfen die Leute die Nase. Woher das kommt? Ich vermute, weil man irgendwie merkt, dass die Kirche ihrem eigenen Theorierahmen mehr misstraut als sie ihn schätzt, ihn inhaltlich nicht mehr füllen kann und deshalb auch nicht mehr zu füllen wagt - stattdessen aber lieber irgendwelche Alltagspolitik bekämpft oder unterstützt (je nachdem), was aber beides genuin eigentlich nicht ihre Aufgabe ist. Wer das „Perlenspiel mit ewigen Dingen” als zu gering ansieht und sich seines Platzes im Elfenbeinturm schämt, der verfällt der Unart, auch anderen die Armseligkeit des Agnostizismus, zu dem man selber abgestürzt ist, als etwas Wertvolles verkaufen zu wollen!" Zornig und zugleich beifallheischend schaute er in die Runde.

Dann fuhr er fort und fragte: "Gibt es eine Lösung? Anstatt immer zu fragen, „wie oder was müssen wir als Kirche tun, damit wir die Leute kriegen“ (diese Formulierung kann man bei den Westlern leider nicht selten hören), sollten wir andersherum einmal fragen, „was müssten wir tun, damit die Leute nix mit uns zu tun haben wollen.“ Und genau das! müsste man dann unterlassen. Da wird viel Platz … Zum Beispiel die Lebenszeit, in der man andere politisch belehrt, was sie wählen oder nicht wählen sollen. Die Zeit die verbraucht wird, um breite Wählerschichten im Lande moralisch zu diffamieren, wenn sie ihre ehrliche Meinung über die politisch katastrophal gewordenen Zustände im Lande benennen. Und in nicht mehr zu überbietender Maßlosigkeit um das Götzenvieh angeblich geschlechtergerechter und politisch korrekter Sprache kreisen. Alle diese Zeit stünde bei Unterlassung solcher Peinlichkeiten wieder für anspruchsvolle Glasperlenspiele zur Verfügung."

Nun hatte er endlich geendet und Ibn Jesus lachte zustimmend. Dann wiederholte er langsam den Satz Joseph Knechts aus dem Roman Hermann Hesses: 

„Nichts ist doch notwendiger, den Menschen vor Augen zu stellen, als gewisse Dinge, deren Existenz weder beweisbar noch wahrscheinlich ist, welche aber eben dadurch, dass ... gewissenhafte Menschen sie als seiende Dinge behandeln, dem Sein und der Möglichkeit des Geborenwerdens um einen Schritt näher geführt werden.“

Inzwischen war es ganz dunkel geworden und man ging zu Bett. Die Sterne schauten milde auf die drei Männer herab, die hier draußen in der Wüstenei sich so ereifert hatten und meinten, ein gutes Gespräch miteinander gepflegt zu haben. Auf jeden Fall war es kein niedrigschwelliges gewesen. Leberecht Gottlieb aber wälzte sich lange noch auf seinem Lager schlaflos hin und her. Er machte sich Vorwürfe. Waren sie da eben nicht doch etwas zu hart mit ihrer Kirche umgesprungen? Ach - es war das alles schon schlimm genug. Warum musste es immer nur soweit kommen? Dann schlief er ein - und träumte einen seiner schlimmsten Träume. Er versäumte im Traume, zu einem wichtigen Gottesdienst pünktlich gekommen zu sein, in dem er selbst die Predigt halten sollte - aber nichts vorbereitet hatte. Und dazu saß der Herr Bischof in der ersten Reihe ...

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Autor:

Matthias Schollmeyer

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