quis sit via ad credendum
Leberecht Gottlieb (85)

85. Kapitel, in welchem Ibn Jesus seinen Weg zum Glauben beschreibt und Leberecht Gottlieb einfach nur lauscht - und erstaunt ...

Für den chinesischen Seidenfabrikanten Luan Wang Li Zhang und den Führer der christlichen Sekte der Jildim Hakochabin, was übersetzt soviel wie KINDER DER STERNE bedeutet, war die Nacht vorzüglich verlaufen. Erlabt von erquickendem Schlafe und gesegnet mit fröhlichem Erwachen schwatzten die beiden in jener Art altertümlichem Deutsch miteinander, welche man aus dem Spätwerk Karl Mays und dem Glasperlenspielroman Hermann Hesses zur Genüge kennt. Wir geben das Ganze hier etwas salopp wieder, damit der Leser sich nicht langweilen muss. Während Leberecht Gottlieb sich hartnäckiger Skrupel wegen die ganze Nacht über auf seinem Lager hin und her geworfen hatte und sowohl geistig als auch körperlich recht angeschlagen beim Frühstück erschien, standen - als der Emeritus eben im Speisezelt anlangt - die beiden anderen schon hungrig vor der Tafel, auf der von den Schlangenweibern allerlei Leckereien aufgetürmt worden waren. Wilder Honig etwa, Kamelmilch und jenes Wachtelfleisch natürlich, von dem man seit Tagen bereits reichliche Mengen und Fetzen in einer Feigen-Knoblauch-Remoulade hat schwimmen sehen können. Man begrüßt einander und setzt sich an die mit Elfenbeintarsien verzierten Tischchen. Bald geht auch schon das gestrige Gespräch bei Fladenbrot und starkem Kaffee weiter - ebenfalls wird Tee gereicht.

Dieses Thema "Glauben, Gott und die Welt" ist auch gar zu verführerisch. Wie kann es sein, dass die Sprache der sterblichen Menschen die Geheimnisse des Unsterblichen fassen und angemessen beschreiben könne? Leberecht verfolgte den Dialog, den hauptsächlich der Chinese und der Araber führten mit wachem Interesse. Teils aber zuckte er beschämt zusammen und erinnerte sich an seine jahrzehntelange Praxis als Hirte, Seelsorger, Lehrer, Priester und Entertainer seiner Kleinstgemeinden Prätzschwitz, Mumplitz und Plötnitz im sächsischen Lande, wo vor Kurzem ein so signifikantes Wahlergebnis herausgekommen war. Und er erinnerte sich auch daran, wie er selber doch am 15. Oktober früh bei Sonnenaufgang das Opus Magnum vollziehen wollte, das große Werk, das dem Lande August des Starken, der Gräfin Cosel und dem Könige, welcher damals ausrief: „Macht doch eiern Dreck allene!” erneut einen weisen und gerechten Lenker verschaffen sollte. Wie das gehen würde - das wusste der Pfarrer i.R. allerdings noch nicht. Denn weder Heiliger Gral noch Lanze, weder Nägel noch Gewand des HERRN waren bisher in seiner Hand.

Leberecht strich sich eben Kamelbutter auf sein Fladenbrot und gedachte, dasselbe nun noch mit wildem Honig zu bestreichen, da hörte er, wie seine beiden Gefährten eben auf die Dauerbrenner-Frage gestoßen waren, wie man zum rechten Glauben käme - im Allgemeinen und Besonderen.

Ibn Jesus, der Araber, dessen Urmütter Karl May bei seiner späten Orientreise 1898/99 dolmetschend und auch anders hilfreich zur Hand gegangen waren, begann damit, dem Thema mit einer wüsten Räubergeschichte den rechten Drall zu geben. Er erzählte Folgendes:

„In meiner frühen Jugend - ich kannte damals noch nicht den großen deutschen Schriftsteller Karl May und seinen fünfunddreißig Jahre jüngeren Kollegen Hermann Hesse auch noch gar nicht, denn ich war ein armer Hirtenknabe von Ziegen und ein Treiber von Kamelkarawanen hier in der Wüste, gab es einen Konflikt zwischen unserem Clan und der Nachbarfamilie. Wir mussten damals noch nach dem Gesetze des Stärkeren und mit der Schärfe des Schwertes selber über Wohl und Wehe unserer Familien entscheiden. Auf der anderen Seite standen meine entfernteren Verwandten, die Männer meiner Großcousinen und angeheirateten Basen, Nichten und Neffen. Und ich fragte den Mufti, der mit dem Säbel neben mir zu fechten sich aufgestellt hatte - ich war damals noch ein Moslem wie alle - ob wir denn unsere Brüder bekämpfen dürfen. Da rezitierte er mir ein paar Verse aus einem Buche, dass man in Indien liest. Es ist die Bhagavad Gita der Hindus. Der Mufti war ein kluger Mann und hatte im heutigen Pakistan versucht, diese Irrgläubigen zum Glauben an Allah zu bekehren. Das ist ihm aber nicht gelungen, genauso wenig wie dem christlichen Missionas-Großvater Hermann Hesses im südindischen Kerala nicht. Aber der Mufti hatte bei seiner gescheiterten Missionstätigkeit die Schriften der Hindus kennengelernt. Übrigens auch als großartige Übersetzung des thüringischen Gymnasiallehrers Robert Boxberger. In der Bhagavad Gita ist die Situation dieselbe gewesen wie damals zwischen unseren beiden Clans und heute in der russischen Ukraine.

Ardschuna, dem Helden der indischen Erzählung, welcher sich in diese vertrackte Situation geworfen bemerkt, erscheint nun die Gottheit. Ardschuna befragt die Gottheit und diese antwortet ihm. Ibn Jesus griff zu einem lautenartigen Instrument, das an der Zeltwand lehnte, griff in die Saiten und rezitierte die in Frage kommenden Verse aus dem hinduistischen Epos: 

'Wie kommt es, dass im Unglück jetzt
Verzagtheit deinen Sinn ergreift
die dir den Weg zum Himmel schließt
auf Erden Schande auf dich häuft?
Gib Raum nicht der Zaghaftigkeit
nicht ziemt sie deinem Heldensinn.
Ermanne, Schreck der Feinde, dich
Gib dich nicht zagem Kleinmut hin.
Die Tat nur sei dir Zweck, o Freund,
nicht kümmre dich’s, ob sie gelang.
Ob gut, ob schlimm der Ausgang sei
dein Gleichmut heißet Andacht mir,
andächtig übe deine Tat,
und frei von jeglicher Begier.’

Ibn Jesus wollte die Laute aus der Hand legen. Da bat der Chines aber, das Lied noch einmal zu wiederholen. >> Und so hören auch wie es hier ein zweites Mal<<. Also werden die Brüder in diesem uralten Hindulied von der Gottheit gezwungen, gegeneinander die Hand zu erheben. Der Mufti rief nun genau diese wenigen Verse, die ich eben zitiert, weil sie in meinem Herzen einen wichtigen Platz einnehmen, obwohl sie nicht aus der Christenzeit stammen, sondern viel älter sind. Dann stürmte mein verehrter Verwandter mit dem gezückten Säbel auf die feindliche Linie zu, die doch von seinen eigenen und meinen Verwandten gebildet worden war. Er rief die Worte seines heiligen Textes, und damit übergab er sein Leben an etwas Höheres - du magst diesen Vorgang meinetwegen auch Glauben nennen. Ihn traf der Bolzen einer Armbrust in die Mitte seiner Stirn - lächelnd stürzte er vom Kamel. Wir verloren den Kampf und ich - damals ein Knabe von zwölf Jahren - wurde als Diener zu einem fremden Zelt gesteckt. Erst später kam ich frei und entkam in ein großes Flüchtlingslager an der jüdischen Grenze. Von dort aus gelangte ich 1978 nach Tübingen, dort lernte ich die Bücher Hesses kennen und studierte ein paar Semester das, was man damals Soziologie genannt hat. Bald angewidert vom Treiben der Abendländer kehrte ich aber wieder zurück in meine Heimat. Inzwischen war Nasser nicht mehr an der Macht und ich sammelte kurz vor Mubaraks Zeit einige der Unsrigen und wir folgten unserem alten Glauben, der von den beiden literarischen Leitplanken Hesses und Karl Mays bereits seit Jahrzehnten treulich geleitet worden war. So kam ich zum Glauben. Durch Bücher, Sprüche und Katastrophen - die immer miteinander verbunden sind. Denn Bücher sind Leitfäden in und für Katastrophen. Und Katastrophen sind Bücher nicht aus Papier sondern aus Ereignissen, die sich gegenseitig umblättern helfen.” So also sprach Ibn Jesus zu dem Chinesen Luan Wang Li Zhang.

Der dankte für den Bericht und meinte dazu, dass die Gita tatsächlich ein wichtiges und hilfreiches Buch sei - aber nur e i n e Möglichkeit von insgesamt vielen unendlichen. Genauso wie das „Liebet Eure Feinde” aus der Bergpredigt des Juden Jesus, dessen Namen der Araber ja selber trage. Und - fuhr er fort - wie jede Person auf je ihre Weise zu dem käme, was die Frommen „Glauben” nennen, ohne dass sie eigentlich genau beschreiben könnten, was sie mit diesem Begriff überhaupt meinen. Es gäbe sehr schlichte Gemüter, die es oft so formulierten: „Du musst dein Leben Jesus übergeben!” Damit meinen sie die Aufgabe der eigenen und das gleichzeitig Aufgehen in einer kooperativen Persönlichkeit. Ähnlich wie Ardschunan von der Gottheit geraten wurde, sich in das Ganze des Kampfes bis hin zur Aufgabe der Person zu geben. Die Frommen - der württembergische Pietismus, fügte er hinzu, nenne sie Extrempietisten - versuchten sogar, Zeitpunkt und Ort solcher Lebensübergaben terminlich und räumlich zu historisieren und beschreiben dann Tag, Stunde und Ort des betreffenden Ereignisses als präzises Heilsdatum - und legen in mehr oder weniger peinlich wirkender Art und Weise öffentlich Zeugnis davon ab. „Da bin ich zum Glauben gekommen!” sagen sie und blicken drohend in die Runde. Andere setzen noch einen Zacken drauf und rufen: „Nein - da hat der HERR dir den Glauben geschenkt.” Auf jeden Fall ist diese Art des Zum-Glauben-Kommens immer von der sogenannter anekdotischer Evidenz geleitet. Es ist die unbewusste Annahme, ein Wunder sei geschehen, dem man persönlich sich beugen musste und ihm damit zustimmt, dass man sich einredet es auch selber gewollt zu haben. „So” meine der Chinese, kann man diesen Vorgang und seine Struktur wohl am besten beschreiben.”

Leberecht Gottlieb nickte, goss sich noch eine Tasse schwarzen Kaffees ein - und hellte das Getränk mit einem reichlichen Schuss salzig und zugleich cremig schmeckender gelblichweißen Kamelmilch auf. Der Chinese wollte erneut anheben und seine eigene Glaubensgeschichte berichten. Das aber sparen wir uns für den morgigen Beitrag auf. 


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Autor:

Matthias Schollmeyer

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