vom Weltäther
Leberecht Gottlieb (86)

86. Kapitel, das uns Näheres über die besondere Feinheit der Religiosität des Seidenhändlers Herrn Luan Wang Li Zhang mitteilt …

Das Frühstück zog sich über zwei weitere Stunden hin - denn nun begann der Chinese Herr Luan Wang Li Zhang seinerseits mit einigen Erläuterungen im Blick auf das, was er Glauben nennen wolle. Und das hatte mit Seidenraupen bzw. den Seidenspinnerschmetterlingen (Bombyx mori) zu tun. Diese Tiere verspinnen sich nach einer lebenslangen Fressorgie in einen kleinen Raum, der genauso groß ist wie sie selbst und den sie aus den Seidenfäden ihres eigenen Seins herstellen. Und in diesem Raume reifen sie, die vorher fette Maden gewesen, zu herrlichen Schmetterlingen heran. Aus den leeren Kokons, die zurückbleiben, wenn die Schmetterlinge daraus entschlüpft sind, stellt dann der Mensch sich jene Stoffe her, mit denen Herr Luan Wang Li Zhang handelt und vermögend geworden ist, weil man aus Seide wunderbare Kleider herstellen kann. Beziehungsweise - Herr Luan Wang Li Zhang gab das unumwunden auf die Nachfrage Leberecht Gottliebs etwas beschämt zu, die Raupen mussten sterben - dann wird der Kokon aufgetrennt. Jeder Kokon besteht aus einem einzigen Faden, der bis zu 900 Metern lang sein kann.

Herr Luan Wang Li Zhang erzählte nun, wie er eines Tages, als er noch ein chinesischer Mao Zedong-Anhänger und ganz und gar Atheist gewesen, den Text eines unter Stalin im Gulag eingesperrt gewesenen Bürgergrechtlers gelesen habe. Es handelte sich um das im Jahre 1935 verfasste Traktat aus der große Monografie über die Dialektik und um das Werk „Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit” des russischen Mystikers und Mathematikers Pawel Florenski. Eine Art Versuch über die orthodoxe Theodizee in zwölf Briefen. Wer Florenski war?Florenski arbeitete als wissenschaftlicher Berater der Kommission zum Schutz der Kunstdenkmäler des Dreifaltigkeits-Sergeij-Klosters und veröffentlichte Arbeiten über alte russische Kunst und versuchte die Relativitätstheorie Albert Einsteins mit Überlegungen Jacob Böhmes und der russisch orthodoxen Gotteslehre zu verbinden. Luan Wang Li Zhang hatte sich den kleinen Artikel 1987 kurz vor Beginn der russischen Perestroika mit eigener Hand in einer Petersburger Bibliothek abgeschrieben (Kopiertechnik gab es noch nicht) und führte ihn seitdem immerdar bei sich. Der Text hatte bei ihm zu einer Art Bekehrungserlebnis geführt - einer Art Lebensübergabe, wie die Pietisten sagen würden. Lebensübergabe nicht unbedingt an Jesus den HERRN, aber an eine spezielle Form des von Gott angesprochenen Nichts. Der Seidenfabrikant zog, als er solches berichtete, ein Etui aus der Brusttasche seines Seidenanzugs und entfaltete daraus ein A3 großes Papier, welches hinten und vorn dicht beschrieben war. Dann setze er sich wieder nieder und bat seine beiden Frühstücksgefährten ihm zuzuhören. Und bald schon las er aus Florenskis Überlegungen mit leiser Stimme und guter Betonung in die heiße Luft der ägyptischen Wüste - und in die Ohren Leberecht Gottliebs und Ibn Jesus´ hinein einen fiktiven Brief Florenskis an seinen exilierten Freund namens Georgi Iwanowitsch Gurdiejew. Das Mysterium der Seidenraupenverwandlung habe - so bereitete er seine beiden Zuhörer auf den Inhalt und die Bedeutung des Textes vor - mit der Verwandlung Gottes zu tun, welche Florenski theoretisch zu begründen versucht. Und dieses sei ihm - so der Chinese - auch außerordentlich gut gelungen.

Lieber Freund - gern will ich Dir nun zum Beschlusse noch einige Dinge mitteilen, die ich teils wach, teils in meiner Gefängniszelle schmachtend beim Traume geschaut und danach mit dem Licht der Vernunft erkannt habe. Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob ein Gott sei - oder ob nicht. Oft haben wir beide dafür schon die Klingen unserer geistigen Schwerter gewagt. Und Du erinnerst Dich sicher, wie ich nicht in Allem Deiner Lehre - noch weniger der Lehre unserer geliebten Kirche - habe folgen können und wollen. Ich bleibe also dabei, wie ich es oft schon ausgeführt habe - und erkläre es noch einmal Dir, meinem geliebten Freunde und Weggenossen:

1. Damals schon, als Gott noch ganz alleine und nur für sich selbst lebte (also vor unendlich langer Zeit) konnte ihn deshalb auch niemand ansprechen. Nicht deshalb, weil er etwa nicht ansprechbar gewesen wäre - etwa in dem Sinne eines: „Habe grade keine Zeit“ oder „bin zur Zeit nicht ansprechbar.“ Sondern es verhält sich viel einfacher: Wer denn hätte ihn ansprechen können? Es war ja nur er selber da und überhaupt kein sogenannter Ansprechpartner, welcher zu ihm sollte flehen oder der ihn hätte verfluchen können, bzw. der einfach gesagt hätte, „He, – Gott! Wie geht es heute?“

2. Gott war also allein, so wie auch dieser Tage er allein ist. Jedoch gab es früher einmal ein ganz besonderes Alleinsein, welches wir heute nicht mehr kennen. Gottes Sein hatte sich noch nicht mit dem All und der Einsamkeit des Nichts berührt - geschweige denn vermählt. Das verstehst Du nicht? Siehe: Wenn man einfach allein ist, dann ist man allein. Aber wenn man allein ist und zusätzlich weiß, dass man allein ist, – dann ist man nicht mehr ganz allein, – weil ja das Alleinsein quasi selber neben einen hingetreten ist und immerfort einem zuraunt: „Siehst du, – nun bist du ganz allein!“ Und genau das! ist schon keine echte Einsamkeit im Sinne des einfachen Alleinseins mehr. Nein - genau an dieser Stelle ist das einfache (oder landläufige) Alleinsein zu einer hochveritablen Angelegenheit geworden. Man ist mit sich selbst Eines geworden (All-Ein-sam). Und das ist ein zugleich sonderbarer als auch wunderschaffender Zustand.

3.   Wie dem auch sei, eines Tages – das heißt „Nicht eines Tages” (denn es gab ja weder Tag noch Nacht, es gab ja noch nicht einmal die sogenannte Zeit!) sondern eher: „So mir nicht´s dir nicht´s” wollte es geschehen, dass der alleinige Gott auf eine ganz besondere Weise vor SICH SELBST hinschaute. Und mit diesem Vorsichhinschauen begann alles, – besonders das, was wir die Welt nennen. Mit diesem besonderen wissenden Hinschauen - damit begann die Schöpfung.
Gott hatte sonst zwar auch nichts anderes getan, als in sich selbst hinein zu schauen, aber auf einmal schaute er anders. Er schaute vor sich hin. Der Blick Gottes richtete sich dadurch nicht nur mehr nach innen sondern auch nach draußen und fiel ins Nichts hinaus bzw. hinein.

4. Da aber draußen nichts war, auf welches sein Blick hätte fallen und darauf verweilen mögen – denn da war ja nur das NICHTS – trieb sein Blick in´s Unendliche hinaus und zog dabei sich selbst nach sich, – so daß Gott sich selbst (weil er da draußen nichts erschauen konnte) vermittels dieses seines Ausblickens sich selbst „ent-schaute.” Sein Schauen wurde darin durch nichts aufgehalten und deshalb verließ er sich selbst sozusagen durch seinen Blick und vermittels seines entströmenden Hinausblickens. Er wurde dabei selbst ganz Blick, – Blick, der das Nichts anschaute, und sich auf diese Weise von SICH SELBST selbst löste – und im Nichts auflöste.

5. Indem Gott dergestalt im Nichts aufging, ist von ihm selber buchstäblich nichts übrig geblieben. Und wenn es nicht so mißverständlich klingen würde, müßte man sagen, er sei durch leichtsinniges Hingucken ganz einfach entstorben. Besser sollten wir aber lieber sagen: Er war nun das als und zum Gotte verkörperte „Nichts“ geworden. Und dieses Nichts stellte nunmehr so etwas wie seinen Schrein dar, einen ewig ruhigen Heiligenschrein.
Er hatte sich also mit seinem Blick selbst ins Nichts hinein vergraben. So etwa wie Du, lieber Freund, wenn du manchmal Dich in ein spannendes Buch vergraben und dann lesend mit diesem fast zu einem Einzigen geworden bist. Aber das ist nur gleichnishaft ein Bild! Wir sollen uns ja angeblich kein Bildnis machen dürfen (ja, – wenn das so einfach wäre, lieber Freund!)

6.  Das Nichts von vorher war nun selber ganz sachte mit etwas Sanftem erfüllt worden (mit den Blicken der sich an das Nichts verloren habenden Gottheit) – und auf dieses Sanfte und Sachte haben manche unter uns ernst zu nehmenden Menschen nachher dann auch folgerichtig einen ehrfürchtigen Blick werfen - und es GOTT nennen wollen. Wir benutzen heute die seltsamen Worte „vorher“ und „nachher“ - auch sagen wir „Gott.“ Diese rätselhaften Begriffe gebrauchen wir, um etwas zu beschreiben, was wir im Grunde eigentlich nicht verstehen. Wir verstehen es nicht, weil es uns Kopfzerbrechen bereiten würde, wenn wir es verstehen könnten.

7. Aus Sorge vor diesem Kopfzerbrechen wählen wir unsere Worte so, als ob Fischer ein Netz knüpften, um sich damit Fische einzufangen. Aber nun knüpften sie die Maschen riesengroß, so dass die Fische werden hindurch schwimmen müssen. Nur die beim Fischen ins Wasser gefallenen Fischer kann man mit dem Netz wieder heraufholen und retten, – damit sie weiterhin auf diese Weise fischen. Ach - diese törichten und zugleich klugen Fischer! Niemand durchschaut sie so recht, – außer wir. Aber auch nur durch die Maschen unserer Netze!

8. Zurück zum Thema. Das unendliche Nichts hatte Gott nun ganz aus sich aus und in sich hinein gesogen, so daß zwangsläufig Gottes leere Hülle mit dem vom Blicke Gottes bislang noch unerfüllten Rest des Nichts kongruent geworden und zusammentrat.
Ja, – es war genau so, wie ich es zu sagen versuche: Es flossen die leere Hülle von Gott und das noch unerfüllte Nichts in EIN UND DASSELBIGE. Niemand kann nun mehr sagen, dass dort, wo das Nichts ist, Gott nicht sein könne! Denn prinzipiell ist ja die Hüllenleere Gottes immer dort mit dabei, wo scheinbar das NICHTS obwaltet. Die Leere Gottes hat sich - als leere Hülle getarnt - im Nichts eingenichtst. Besser sagen wir: Eingenistet. In jenem zu ihm selbst unterschiedenen "anderen" Nichts (in das hinein der Blick Gottes verschwand) – in dieser gemeinsamen Zusammenheit des Nichts und zugleich Gottes ist sozusagen beider wundersames Nest errichtet.

9. Und zusätzlich durchströmt der Blick Gottes, der von seiner Fülle weg seinerzeit in das ursprünglich ganz leere Nichts absichtlich zuerst hinaus gezogen war und sich dann immer weiter hat hinausgesogen sein lassen, – zusätzlich zu diesem Ziehen und Gesogen-Werden durchströmt dieser Blick nun auch die ausgeleerte und zugleich gelehrte geistig/geistliche Erinnerung an ein ehemalig eigenes, für jetzt aber verlorengegangenes Nirgendwosein Gottes. So ward und blieb der Schrein des Nichts die Wohnung des Höchsten.

10. Die Welt ist also voller ursprünglicher Gottheit. Und dieses auf zwiefache Weise! Erstens, insofern Gottes leere Hülle, die mit dem Nichts eines wurde, – oder sollten wir sagen: Das leere Nichts, das mit Gottes Hülle Hochzeit feierte - einen Raum für die Schöpfung ermöglichte. Und zweitens als alle Raumzeit durchforschender Blick, der immer weiter in das bodenlose Nichts hinauseilend dieses durchschaut und mit göttlichem Schauen erfüllt.
Über diesen „Blick Gottes - fort von sich selbst“ ist viel geredet, geschrieben und gerätselt worden. Manche sagen, genau dieses Aus-und-von-sich-Absehen müsse jenes Fluidum sein, was die Alten „Äther” nannten. Der Äther sei sozusagen ein im Geschehen von Raum und Zeit waltendes Echo des steten Gottesblicks. Wäre also als Echo des verdämmernden - oder um es musikalischer zu sagen - verklingenen Gottestons. Noch härter ausgedrückt - des verkommenen oder verlorengegangenen Gottes.

Nun wissen wir aber, dass überhaupt nichts verloren gehen kann, aber wissen, dass alles Verlorengegangene gar nicht so selten wiedergefunden wird, – wenn nur erst ein wirklich liebender Blick interessiert darauf fällt! Das Verlorengegangene ist nie g a n z verloren. Erlaube mir, lieber Freund, dass ich ein Beispiel aus der fernen Zukunft des Menschengeschlechts nutze, um Dir meine Gedanken genauer vorzutragen:
Eine kleine weiße Muschel, welche Meereswogen an den Strand Hyperboraias geworfen hatten, wurde von einem Knaben in der Ferienzeit eingesammelt und in die Hosentasche gesteckt – dann aber vergessen. Erst nach Jahren ward die Muschel in der Terra Afrikana wiedergefunden, als nämlich ein anderer Knabe dort in seine Hosentasche griff. Die Mutter des Urlaubsknaben gab vor Jahren die Muschelhose ungesäubert in eine angeblich wohltätige Kleiderspende. Quod erat demonstrandum.

11. Die Muschel war zwar verschwunden, jedoch war zugleich auch immer da. – Es hatte sie lange nur keiner wahrgenommen. Wie freute sich die Meermutter, da der kleine Negerknabe ihre Muschel entdeckt hatte.
Nichts geht verloren, noch nicht einmal das Nichts. Denn das Nichts verbirgt uns den Blick Gottes und er sich in dessen Leere, die die seine geworden ist. Übrigens, – wir sind uns völlig bewußt darüber, wie wir heute inzwischen mit der unpräzisen Sprache jener Mystiker reden, die ähnliche Gedanken auf den verschiedensten Scheiterhaufen der Kirche hie und da haben mit dem Leben bezahlen müssen.
Noch einmal und darüberhinaus: Durch den ins Nichts ausgeströmten Blick des sich entschauenden Gottes füllte sich das unendliche Nichts langsam mit Blicken, ohne dabei jemals voller zu werden. Denn weil der Blick aus den Augen Gottes nicht sofort das gesamte Nichts erfasste, sondern allein mit der Geschwindigkeit des Äthers (welche nur in Gott selbst unendlich ist, im Nichts damals aber höchstens siebenmal das Trillionenfache der Lichtgeschwindigkeit betrug) – weil also der Blick Gottes sich im Vergleich zur Unendlichkeit recht langsam davonstahl, kam es zu Unterschieden und Interferenzen des reflektierten Blickes Gottes im Nichts.

12. Aus diesen interferenten Turbulenzen entstanden dann ihrerseits die Vorläufer der sogenannten Quarks und Strings, aus deren Verklumpungen alle Energiefelder herrühren (erlaube mir, lieber Freund, dass ich zu Dir nun in Worten und mit Begriffen einer viel später erst anbrechenden Zeit rede). Schließlich ging es hin und her bis zu den Elementarteilchen, die sich wie wild aufeinander zu stürzen begannen; irgendwann gab es einen singulären Zustand absoluter Anomalien und den daraus resultierenden Urknall, von dem die Wissenschaft fabelt. Woraus dann schlußendlich dasjenige Gebilde entstand, welches wir Kosmos nennen oder Universum.

13. Was lernen wir aus diesen einfachen Betrachtungen? Der Blick Gottes durchschaut nach wie vor alles - es gibt nichts, was er nicht kennt, höchstens ein paar entlegene Regionen des Nichts, in die das Auge des Allmächtigen aber mit inzwischen fast unendlicher Geschwindigkeit seine Strahlen inspizierend noch entsenden wird.

Lieber Freund, es lag uns sehr am Herzen, diese Tatsachen aus der Spelunke der Vergessenheit heraus ans fröhliche Tageslicht zu führen, um damit diesem oder jenem zweifelnden Zeitgenossen unter uns gleichsam wie nebenbei einen gewissen Trost zu spenden. Denn wer da sagt, es sei kein Gott, mag nach mehrmaliger Lektüre des vorliegenden Traktates sich erneut der kritischen Frage widmen, ob die Dinge nicht vielmehr doch viel einfacher liegen, als ich es oben eben ausgeführt habe …

Gott ist also anzusprechen gerade dort, wo er nicht ist, oder nicht zu sein scheint. Das Nichts aber ist seine ewige Bühne, das Schweigen sein Sprachrohr und das Hintergrundrauschen unseres nicht endenden Nachdenkens bezüglich des fraglichen Sinn von Allem die Resonanzkammer seiner unhörbaren Stimme.

Gott befohlen, mein Lieber
Dein Florenski
auf den Solowezki-Inseln Juni 1935

Der Seidenhändler blickte nach Vollendung seiner Lektüre gerührt in die Wüste hinaus und seine beiden Zuhörer ebenfalls. Wie sonderbar doch die Weisheit auf der Welt umhergeht und sich jedem offenbart in einer Art, die sich von anderen unterscheidet. Dem einen so, dem anderen anders und jedem auf seine Weise.
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Anderes von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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