UND WAS HAT DAS MIT DEM GLAUBEN ZU TUN? (TEIL 2)
Leberecht Gottlieb (88)

88. Kapitel, in welchem wir erste Bekanntschaft mit den indischen Palmblattmanuskripten machen und etwas über das Schicksal eines speziellen Buches von Bartholomäus Ziegenbalg erfahren. Aber dabei auch einen Abstecher in die völlig unbedeutend gewordene Stadt Zahna an der Zahna machen müssen ...

Leberecht wurde am Abend schon schon erwartet, der Kreis seiner Zuhörerschaft war inzwischen auf etwa dreißig Leute angewachsen. Man hatte ein Feuer angezündet und Leberechts Stuhl mit einigen Kissen ausgepolstert. Da saß er nun und scrollte den Bildschirm seines iPhones 14 Pro Max ein wenig hin und her, bis er den Anschluss im Text gefunden hatte. Nun räusperte sich der Pfarrer in Ruhe ausgiebigst und fuhr dann mit der Lektüre fort. Wie ich heute Mittag schon bereits ausführte …

„… war der vormals aus Sachsen stammende Missionar Bartholomäus Ziegenbalg auf dem Schiffe „Hedwig Sophia“ im Jahre 1705 nach Indien unterwegs gewesen und schrieb da draußen auf dem wilden Meere das Buch „Allgemeine Schule der wahren Weisheit.“ Ein Buch, das vielen Lesern bis auf den heutigen Tag Wegweisung und Trost geworden ist. In einer ausführlichen Zurede an die Erbprinzessin Sophia zu Dänemark gleich am Anfang des Buches führt er seine persönliche Freude an dem Lichte der Sonnen an, die er bei Gott für uns alle, die wir sein Buch lesen würden, erbäte. Und in der Vorrede an die Leser des Buches wünscht er denselben die „Gnade vom Vater des Lichts“. Es ist sicher kein Wunder, dass die göttliche Vorsehung gerade Ziegenbalg nach Malabarien zu den dravidischen Weisen gesandt hat, um denen das Licht des Evangeliums unter ihre daselbst schon seit alter Zeit zahlreich blackenden Lampen zu tragen, denn das Symbolon des Lichtes spielt sowohl bei den Christen als auch bei den Heiden seit ewigen Zeiten eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Ziegenbalg wollte nicht ohne Vorbereitung nach dem fernen Kontinent über das Meer gefahren sein. Der weitschauend fromme Mann borgte sich deshalb die Schrift „Ludus domos planetarum et signorum Dravidorum“ vor Antritt der Reise aus, darinnen die alte Lehre der malabarischen Dravider von den Zeichen am Himmel aufgeschrieben steht, wie selbige ein alter Bramane auf Palmblätter gezeichnet und deren versammelte Berichte später durch irgendeinen niederländischen Gewürzkaufmann in die Salzstadt Halle verbracht und dieselbe dorten von dem Vater des nachmaligen geheimen Kriegsrats Johann August von Ponickau schließlich ist erworben worden. Der ehemalige Zahnaer Superintendens Gottfried Schumann, der am 7. Septembris des Jahres 1671 in Belgern nahe des Elbeflusses als Sohn eines Seifensieders geboren und am 24. Januarius 1732 in Zahna an der Zahna verstorben war, beschaffte Ziegenbald diese Sammlung aus Palmblättern, enthaltend allerlei heidnisches Zeugs - aber auch Rezepturen für die Herstellung von Metallen und Gläsern, wie es in Ponickaus Bibliothekskatalog heißt. Als Ziegenbalg in Halle zu studieren begonnen, starb der bekannte Alchemist Johann Kunckel von Löwenstern; dieser hatte im Wald bei Zahna nahe den Jagdfluren August des Starken im Glücksberger Forst zwischenzeitlich eine Glashütte betrieben. Kunckel von Löwenstern war eines Tages leihweise in den Besitz des Palmblattbuches gekommen, denn es ging die Mär, darin seien Rezepturen zur Herstellung des metallenen Goldes aus Blei vorhanden. Nun hatte der Alchemist das umfangreiche Buch bei seinem Freunde, dem Superintendenten Gottfried Schumann untergestellt, da er selber nach Brandenburg reisen musste - und nicht all sein Hab und Gut mitzuführen im Stande gewesen. Schumann und Kunckel waren einander nämlich sehr zugetan, da der Seifensiedersohn zu dem Alchemistensprössling zeitlebens ehrfurchtsvoll aufschaute und sich geehrt sah, ihm gerne diesen kleinen Aufbewahrungsdienst verstatten zu können. Und Kunckel, der Erfinder des Goldrubinglases war sehr froh, einen höheren kirchlichen Amtsträger als Schild gegen die immer noch grassierenden Vorwürfe der Hexerei vorweisen zu können, wie sie hie und da noch den einen oder anderen interessante Dinge treibenden Ingenieur treffen konnte. Als Kunckel nun starb, kam das Buch zu Ziegenbalg, der mit Schumann gemeinsam studiert hatte, denn Schumann konnte der Bitte des Freundes, der im Begriff war nach Indien zu reisen, jenen verständlichen Wunsch nicht abschlagen: Da Ziegenbalg nämlich indische Literatur suchte, kam auf die Schnelle nur dieser alte Zahnaer Studienfreund in Frage, ihm irgendein entsprechendes Buch für mehrere Jahre zu leihen. Schumann selbst entlieh eigene Bücher ungern - aber dieses fremde dann doch. Kunckel war ja bereits tot und hatte Schumann auch nicht davon in Kenntnis gesetzt, dass das Buch nicht ihm selbst zu eigen gewesen, sondern den emsigen Büchernarren Ponickau und Sohn in Halle. Nun ergaben sich einige Verwicklungen:

Ziegenbalg nahm das Buch sorglos mit, erlernte die tamilische Sprache daraus in nur wenigen Monaten - also aus rezeptreichen Sternenschriften indischer Astrologen und Kräuterheiden. Deren Konvolut soll der künftige Missionar im Koffer stets bei sich geführt haben. Lernte er dadurch nicht nur viel über Grammatik und Vokablen, so besonders auch über die heidnischen Gottheiten alle, vor denen sich die Inder damals niederwarfen und es noch heute tun und lernte allerlei über Substanzen, Metalle, Kräuter und so fort. Auch erhielt er viel technisches Wissen hinsichtlich der Sternenbewegung am Gezelt des Himmels. Eines Tages aber wurde die Schrift von Ponickau dem Jüngeren im Auftrag seines greis gewordenen Vaters von den Zahnaern zurückgefordert, da der Alte sie wieder in seiner Bibliothek habe stehen sehen wollen, - als beeindruckende Rarität. Da der HERR aber seinen Diener Ziegenbalg als vormaligen Ausleiher dieser überaus wertvollen bibliophilen Kostbarkeit inzwischen ebenfalls aus dem Dunkel des Erdkreises in die himmlischen Lichthallen abberufen hatte, ward meiner unwürdigen Person, Johann Christian Uschmanno, Diakonus des inzwischen neuen Herrn Superintendentis D. Gottlieb Jahn zu Zahna, die Aufgabe zuteil, selbig abgeforderte Palmblätter in dem fernen Lande jenseits des Indus wieder ausfindig zu machen und in das liebliche Halle an der Saale zurück zu bringen. Mein verehrter Superintendens aus Zahna ließ mich denn auch willig ziehen und drängte mich dazu, recht bald abzureisen.

Nachdem 1719 die Stadt an der Zahna im Todesjahr Ziegenbalgs durch einen heftigen Blitzschlag am 31. des Monats Julii entzündet und gänzlich abgebrannt gewesen, lag daselbst alles Leben lange Jahre wie tot darnieder. Schumann, der zur Zeit des Unglücks Superintendens gewesen, starb 1732 ebenfalls - und nun wurde sein hochgelehrter Nachfolger Jahn alsbald von den Ponickaus mit der Rückforderung des Buches erneut hart in Bedrängnis gebracht. Da fasste dieser den Entschluss, meiner Person, die ich ab 1753 bei ihm Diakon geworden, klug zu entbehren - und ich wurde alsgleich nach meiner Ordinatio, die in der Stadt Wittenberg stattgefunden, freigelassen in ein unbändiges Abenteuer, von dem ich in diesem Tagebuch berichten werde – zuerst auf dem Meer und dann auf den Rücken von Pferden und in erbärmlichen Ochsenkarren vom Ostufer des indischen Landes in die Berge hinüber und wieder zurück. Ich sollte das von Schumann an Ziegenbalg ausgeborgte uralte Palmblattbuch ausfindig machen und zurückführen in unser liebliches Sachsenland. Ziegenbalg hatte dieselbe hochspezielle Literatur während der ersten Schifffahrt nach Indien für ein eigenes Werk, an dem er schrieb und das er „Allgemeine Schule der wahren Weisheit“ nannte, aus der Hand Ponickaus und aus dessen Halleschen Privatbibliothek ausgiebig genutzt und wohl vergessen, dieselbe bei seinem nochmaligen Aufenthalt in Merseburg, wo er 1715 heiratete, dem Besitzer zurückgegeben. Oder hatte das gar nicht - das will ich hier fast behaupten - gewollt?

„Ludus domos planetarum et signorum Dravidorum“ soll, so ward ich instruiert, hauptsächlich eine Sammlung von religiös ausgemalten Beobachtungen sein, wie die göttlichen Planeten von dem Schöpfer am Himmel dermaßen hin und her geleitet werden, dass sie dem kundigen Weisen Winke zu geben vermöchten, wie man das überirdische Geschenk des eigenen Lebens auf beste Art zum Wohle der Mitmenschen und zur Ehre der himmlischen Welt einsetzen könne. Genau das nun muss unserem frommen Ziegenbalg sehr gefallen haben, denn mit solcher Lehre hatte er in Betreffs des Lichtes Christi einen guten Anhaltspunkt bei der Priesterkaste der fremden brahmanischen Welt zu Gebrauch in Besitz. Das war auch nicht zu Unrecht vermutet, denn dieses Licht als Sohn des Vater ist bekanntlich Christus selber. Und Ziegenbalg wollte als Missionar, der er nun geworden, sich mit den fremden Heiden unter Zuhülfenahme ihres eigenen Wissens in gutes Benehmen setzen. Denn die Brahmanen nennen ja ihre heidnische Lehre von den Sternen und Planeten „Wissenschaft vom Licht“. Zumal nun auf dem Schiffe "Hedwig Sophia" Weg und Orientierung ohnehin von den Sternen abgelesen wurde, kam manches andere noch hinzu.

Ziegenbalg vollendete seine Schrift von der Weisheit und widmete sie der Prinzessin Hedwig Sophia zu Dänemark. Ich für meinen Teil reise gegenwärtig mit einigen treuen Gefährten dem Ursprunge dieser Schrift nach – teils aus Pflicht, teils aus eigenem Interesse. Was wäre nämlich, wenn der HERR uns in seinen Planetensternen fürwahr gute Engel gesandt, die uns leiten und beschützen? Wie ja auch der Freund Luthers, Philipp Melanchthon, nicht aufhörte, in eigenen Büchern und Vorworten zu Werken der altvorderen weisen Männer zu behaupten und zu beschreiben, solcher Zusammenhang zwischen oben und unten sei tatsächlich der Fall.

Andraparvabath Vidurian, der heilige Mann aus den Bergen, konnte uns allerdings zuerst gar keine Auskunft über den Verbleib der gesuchten Schrift geben - außer jener, dass Ziegenbalg einmal bei ihm gewesen und sie ein gutes Gespräch miteinander gehabt, welches großenteils aus gemeinsamem Schweigen bestanden. Andraparvabath Vidurian selber kannte sich nicht sonderlich mit den Kräften der Sterne am Himmels aus, über die Ziegenbalg ihn befragte, sondern nur mit denen Kräften der Erde. Und war froh, durch das Wort Christi davon freigekommen zu sein, wie er uns beteuerte. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens bis zu seiner Taufe durch Ziegenbalgs Leute mühsamst damit zugebracht, verlorene Dinge erscheinen zu lassen – und sich damit in seinem Dorfe nützlich gemacht. Als einer unserer Gefährten ihn danach befragt und den Kopf voller Unglauben zu schütteln nicht aufgehört, wurde der Weise ärgerlich und fühlte sich sogar gekränkt. Er bot an, uns einen Beweis seiner ehemaligen Arbeit zu geben und drängte uns geradezu, einen Wunsch zu äußern dahingehend, was er solle erscheinen lassen.

Da ich den Ring meines Ahnherrn aus dem heimatlichen Großmonra in Thüringen nicht auf die Reise mitgenommen, sondern in Zahna am heimischen Kamin liegen gelassen, wo er seit jeher seinen Platz hat, nannte ich diesen Ring und beschrieb ihn nach Größe, Farbe und Gestalt. Ich musste aber auch genau den Ort angeben, das Haus und das Zimmer – und eine Skizze davon auf einem Palmblatt einritzen. Der Weise schaute diese Zeichnung an, rieb ein Öl darüber, das er vorher mit Ruß gesättiget, so dass die Zeichen nun kräftig darauf hervortraten. Dann verfiel der Alte in einen sonderbaren Zustand, als welchen man bei den Welschen „Trance“ genannt, brummte eine sich lang wiederholende Melodie und hielt dabei eine silberne Schale im Schoße, die mit Quellwasser gefüllt worden war. Nach etwa drei bis vier Minuten – es mochte auch länger gewesen sein, vernahmen wir alle ein klirrendes Geräusch. Etwas war in die Schale gefallen – wie, das weiß Gott allein. Der Weise erwachte aus seinem Zustand alsbald, war aber sichtlich erschöpft. Er verlangte nach Speise und Trank und zog aus dem Wasser einen Ring vor, der sich als der meinige erwies.

Dieses soll hier nur nebenbei berichtet worden sein, hat uns zuerst auch nicht viel weitergebracht bei unserer Suche das Buch Ponickaus „Ludus domos planetarum et signorum Dravidorum“ betreffend. Zuerst bestürmten wir Andraparvabath Vidurian auf das Heftigste, uns wie eben den Ring auch noch den Ort des Büchleins von den Planeten zu zeigen, damit wir dessen habhaft werden und wieder in die Heimat zurückreisen könnten. Misstrauisch fragte der Greis uns, aus welchem Grunde wir dieses Büchlein haben wollten, wenn es doch nicht uns gehörte? Wir erklärten ihm alles, er aber schlug uns die Bitte ab. Erstens sei er für die nächsten Tage und Wochen zu erschöpft für eine neuerliche Reise an die Grenze jenes Bereichs, den die vedischen Weisen Nirvana nennen – eine solche Unternehmung sei nämlich sehr kräftezehrend. Außerdem verbiete es seine Ehre als ehemaliger Brahmane und jetziger Jünger Jesu, jemandem ein Büchlein zugänglich zu machen, das wohl einmal einem anderen geraubt worden sein musste. Er ließ sich für nichts auf unsere Bitten ein. Und als ihm einer aus unserer Schar leichtsinnig Geld anbot, wurde er grob und hätte uns fast hinaus geworfen."

An dieser Stelle schwieg Leberecht Gottlieb, denn der Akku des SmartPhones, aus dem er vorlas, war erschöpft. Es war inzwischen auch draußen dunkle Nacht geworden. Der alte Pfarrer stand auf, trat vor das Zelt und zeigte - wie seinerzeit Gott dem Abraham - seiner Zuhörerschaft die Sterne, welche den Himmel übersäten. Und dabei sagte er: "Sehet nur hin. Das sind sie. Das sind die Diener des HERRN. Und sie geben Zeichen, damit wir Zeiten und Jahre unterscheiden lernen - und lehren uns, was zu tun und was zu lassen ist. Wer sie kennt, der wandelt auf dem Weg der drei Heiligen Könige, meine lieben Freunde!"

Ibn Jesus übersetzte es dem lauschenden Volke in seine eigene Sprache  Und alle sagten "Amen!"

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Autor:

Matthias Schollmeyer

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