CUR DEUS HOMO
Traktat zur Heiligen Nacht
Pseudoamygdalon (☨690 in Trapezunt) zur „Theorie des Weihnachtsfestes”
Carissimi - ein Fest ist der besonderer Höhepunkt des allgemeinen Brauchtums. Mehr noch - das Fest ist die feierliche Übertreibung der Bräuche und ihrer Grundideen. Denn durch solche Übertreibungen erschafft sich im Fest inmitten der Welt ein besonderer Bezirk, aus dessen Rätsel wir unverwandt angeblickt werden. Im Fest und seiner wiederkehrenden Feier entsteht jene Situation, welche dann nicht nur Ausnahme bleibt, sondern langsam aber sicher im Erlebnis das Gewöhnliche zu begleiten beginnt und dadurch hin zum Außergewöhnlichen verändern kann. Die vorerst nur geringe Kraft zur Veränderung wächst mehr und mehr, bis sie die scheinbar bekannte Welt irgendwann übermacht, verwandelt und sich unwiderruflich in den Kammern der Erinnerung eingenistet hat. Um nichts und keinen Preis kann sie von dort wieder vertrieben werden.
Weihnachten ist das Hauptfest des abendländischen Kontinents, der hier im Osten an Asien grenzt, gegen Norden (wie man hört) von ewigem Eise, gegen Westen vom unendlichen Meer und nach Süden hin von der Welt sonniger Fabeln und phantastischer Dichtungen belagert wird. Unter der zuckrigen Kruste jenes Festes, dem die Sonne so schwach nur scheint, offenbart sich jedoch bittersüß der wertvollere Kern einer großen Idee, die es in sich hat. Und - wo diese Idee im Fest übertrieben wird - adelt sie das Gewöhnliche mit Außerordentlichem, welches nur durch Übertreibung Präsenz gewinnt. Was Weihnachten eigentlich ist - und was es kann, erleben wir in den Mysterienfeiern zur Heiligen Nacht, bei dem Theaterspiel der Kindlein um Krippe und Kreuz und beim Singen der altüberlieferten Hymnen.
In diesen wird durch Harmonien, die sich im Verlauf ihrer Melodie einander vorbereiten und danach wieder voneinander entfernen, der beschmückte Gang der Zeit ausgedrückt. In jenen Texten aber, welche uns nicht selten sonderbar Widersprüchliches berichten wollen, wird ein Weg gefunden, vom Unsagbaren doch etwas auszusagen - nach Art & Weise paradoxer Entsprechungen nämlich. So werden etwa wertvolle Geschenke auch an den Letzten der Letzten überreicht, Engel treten zu den Nichtswürdigsten hin und sprechen zu ihnen von der unsterblichen Seele, der Weltenkönig wird ins Stroh geboren, Sterndeuter gehen sehr weit, nur um am Ziel unter jenen zwei herumirrenden Planeten schließlich still zu stehen, welche den Anschein gaben, dass sie selber auch endlich haben stehen bleiben dürfen. Da kommt der rastlose Weltlauf zur Ruhe und macht, dass Gold, Weihrauch und Mhyrrhe ihren wahren Wert als Spielzeug des Krippengottes anzeigen. Tiere wärmen aus ihren Nüstern das nackte Baby mit pflegendem Dampfe, wie einst der Ewige seinen Odem in die Lehmpuppe Adams strömen ließ und der alte Greis Joseph freut sich, dass er nun auch ein Kind hat. Woher? Das ist ihm gleich, denn der Heilige Geist bestimmt die Regeln des großen Lebensdramas.
Solange Menschen atmen, haben sie gefragt, wie man wohlgefällig leben soll. Letztlich wird jeder die Antwort selber finden müssen - indem er so lebt, wie es eben gelingt. Im Verlaufe der Lebenszeit wird die Frage aber drängend und drängender: "Was muss ich tun, damit ich mir selber glauben kann, dass irgendwie alles gut wird?" Je mehr einer glaubt, dass alles gut wird, um so mehr zweiflet er ja auch daran, dass solches möglich wird! Aber desto mehr er zweiflet, umso mehr wird er sich ebenfalls darnach sehnen, endlich an das unendlich Gute glauben zu können und zu wollen.
Die Priester und deren Bastarde - die Philosophen - haben eine Menge Empfehlungen ausgesprochen: Du musst schön sein, du musst reich werden, du musst dich absichern, du musst gebildet sein, du musst im Fechten mit dem Schwert geübt sein, du musst gut sein. Demnach gälte es, nur mit Maß zu essen und nicht zu fressen wie ein Vieh. Also gilt, zu sparen und klug das Geld anzulegen. Also gilt es, Versicherungen abzuschließen, die höheren Akademien zu besuchen und sich in ferneren Zeiten irgendwann sogar an den Straße und Plätzen fest zu ketten, damit der Weltlauf weitergeht? „Du musst etwas tun!” raten sie alle. Nur die zu erlösen macht Sinn, welche ewig strebend sich bemühten. Glaube ihnen nichts. Das Fest zur Weihnachtszeit bietet einen ganz anderen Weg an.
In der Weihnachtszeit übertreiben wir mit Absicht und mit vollem Bewusstsein eigentlich alles - und zwar in Richtung auf eine rettende Antwort hin, die nicht nur graue Theorie bleibt. Gott hätte - sagen wir also und befestigten diese Aussage in einer dafür extra ersonnenen Wissenschaft (der kirchlichen Dogmatik) - Gott hätte also die Fülle seines Wesens in die Existenz eines Wortes mazeriert und gekeltert. Und dann hätte er sich kraft dieses Wortes in der Finsternis aller Wüsteneien - der mater materia - selbst ausgesetzt. Dazu nutzte er in Sonderheit eine Menschentochter namens Maria. Damit dieselbe nicht bereits am Beginn des Abenteuers resigniert und kapituliert, erwählte der Ewige sich eine Maria aus der Schar der noch jungen und starken Menschenweiber. Und der Name Maria, verdolmetscht - die Widerspenstige und bittere Geliebte - sagt alles. Da ist viel Kraft, wo Widerstand ist. Und diese Kraft sagt schließlich die Worte: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“
Wir nun - wir dürfen heute immer noch davon erzählen - und heben die Mutter Jesu durch unser jährlich erzählendes Berichten wieder zurück in die Welt und das Wunder des Gotteswortes. Wir berichten sozusagen gegen die Schwerkraft, welche uns jedes Ding in seinem unweigerlichem Fall hinab zur Erde erniedrigt, weil die Dinge unter die Gewichte der Anziehungskraft gezwungen bleiben. Wir jedoch ermuntern uns zum Aufblicken von der Erde und weg von den zu ihr herabgestürzten Dingen. Und zwar hin zu den Sternen. Weihnachten wetteifern wir miteinander darum, genau jenen Gedanken zu finden, der über der Menschheit fest stehen bleibt als ihr Stern.
Carissimi - die weihnachtlichen Erzählungen, in denen sich der Gott zum Menschen macht und dadurch den Menschen dicht bis zu göttlicher Natur hinan rückt, stellt seitdem den Ereignishintergrund und die Matrix für jede beliebige menschliche Biographie dar. Wir erzeugen mit all dem Glanz und Flitter, unseren kleinen und großen, sinnlos-sinnhaften Geschenken und aufwendigen Verpackungen, mit all den süßen Klängen und der Hin- und Herbesucherei in der so kurzen Zeit des Tiefstands des Sonnenrades und seines spärlich gewordenen Tageslichts eine metaphysische Übertreibung von dem, was wir alle irgendwie hoffen. Id est - jenem Gotte begegnen zu können, welcher die Gestalt eines Menschen anzunehmen sich nicht scheute, damit wir ihn erkennen lernen. Und in dieser glaubenden Erkenntnis vermöchten wir Gläubigen ein wenig von dem neu zu spüren, was wir ursprünglich einmal gewesen und eigentlich immer noch sind - lichte Schatten der ewigen Gottheit als ihre Ebenbilder.
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