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Goethe hat Geburtstag
Leberecht Gottlieb (105)

105. Kapitel, in welchem wir Zeugen davon werden, wie Leberecht Gottlieb schlecht schläft, aber hochwertig, träumt.

Die ganze Nacht über hatte sich Leberecht fast nur schlaflos herumgeworfen. Ihm träumte, es wäre die Nacht zum 28. August im Jahr des Herrn AD 2024. Aber - warum musste er ausgerechnet von Johann Wolfgang träumen? Vom Goethe! Ja, natürlich. Der feiert seinen Geburtstag am 28. August. Aber heute war gar nicht der 28. August, sondern der 13. Oktober. Goethe war Leberecht Gottlieb im Traum zum  falschen Datum viermal erschienen und hatte mit weinerlicher Stimme gefragt, wen er wählen solle. Und zwar meinte der Dichter die Thüringen-Wahl am 1. September! „Was würdest du dazu sagen?” lautete Goethes gespenstige Frage an den schweißnassen Leberecht, der sich ruhelos auf seinem Lager in der Abtei der Rambertimönche hin und her wälzte.

Freilich - es war heiß in dem Raum, in welchen man ihn und den chinesischen Seidenhändler Wang Li Zhang vorübergehend einquartiert hatte. Aber warum träumte Leberecht in der Nacht vom 12. zum 13. Oktober von der seit Wochen längst vergangenen Nacht des Goethegeburtstages am 28.August? An diesem Tage war er ja noch im Spital gelegen, der treue Leser erinnert sich: Des Straßenbahnunfalls mit Schrödingers Katze wegen.

Ganz deutlich sah Leberecht den Weimarer vor sich stehen. Ein alter HERMES-Wecker mit grünlichen Leuchtzahlen auf dem Zifferblatt bildete den Hintergrund und die schemenhafte Gestalt des Fürstenknechts Johann Wolfgang - den Leberecht im Gegensatz zu Hölderlin nicht leiden konnte - kam auf den Träumer zugeschritten, wobei er immerzu fragte: „Wen soll ich nur wählen?” Und dann noch eine zweite andere Frage - offenbar Abwandlung des bekannten späteren U-Bootpfarrer-Wortes „Was würdest Du heute dazu sagen?“ anfügte. 

Dieser Traum wiederholte sich solange, bis es Leberecht reichte. Er warf die Decke weit von sich, schaltete das elektrische Licht an und beschloss, um sich zu ermüden und wieder geordneten Schlaf zu finden, ein wenig hin und her zu wandeln.  Ringsum schien alles zu schlafen und die Plastikplanen, die das Gewächshaus draußen, bei dem man gestern den sonderbaren Pinchas angetroffen hatte, bewegten sich vom Nachtwind angeregt im Mondlicht auf gravitätische Weise auf und ab. Es mochte dreißig Minuten nach Mitternacht sein. Goethe also hatte zu mehreren Malen gesagt: „Ich habe Geburtstag. Wen soll ich wählen." Und: "Was würdest du heute dazu sagen?”

Leberecht, der ab dem ersten Jahr seines Landpastorendaseins sich immer gern mit Psycholgie beschäftigte, hatte den Freud gelesen, den Jung und auch den Adler. Am meisten aber sich mit dem Wiener Viktor E. Frankl beschäftigt. Aus all dem bisher Gelesenen und Verstandenen war ihm deshalb über die Jahrzehnte ein großer Wissensschatz zugewachsen, auf den er nun hier in der heiligen Stadt des Jerusalem auf seinen nächtlichen Runden durch das Gelände des Klosters zurückzugreifen wusste.

Da war zum Ersten dieser alte HERMES-Wecker mit den fahlen Leuchtzeichen auf dem Zifferblatt. Das deutete natürlich darauf hin, dass Hermes selbst, der Götterbote, eine apokalyptische Botschaft überbringen wollte. Den Wecker selbst kannte Leberecht sehr genau. Er hatte ihn bei der Übernahme seiner Pfarrstelle im sächsischen Plötnitz vom seligen Vorgänger Albrecht Molterich übernommen - zusammen mit anderem alten Urväterkram. Der Kram war in den Container gewandert. Der Wecker fand Gnade. Dieses alte Zeitmessgerät aus den vierziger Jahren machte enorme Geräusche, weil das metallene Gehäuse jede Bewegung des inneren metallischen Räderwerkes enorm verstärkte. Jede Sekunde gab es einen unüberhörbaren Tick mittlerer Lautstärke zu gewahren. Das Ding war eigentlich Metronom! Wenn Leberecht damals aufgeregt war von irgendetwas, sei es die Konfirmandenstunde oder durch unnötige Telefonanrufe irgendwelcher Leute, setzte er sich in die Nähe des Weckers und wartete, bis der Pulsschlag wieder genau im selben Takt ging, wie HERMES ihm vorgab. Der Wecker bedeutete als symbolistisches Traumgebilde: Diese Botschaft hat mit ihm - Leberecht - selbst zu schaffen.

Warum aber kam nur der Goethe, den Leberecht nicht schätzte. Warum kam nicht Schiller? Oder Hölderlin … Und warum machte der Mann ein so weinerliches Gesicht noch dazu an seinem Geburtstage? Viermal hatte er seine Frage gestellt, ähnlich wie in der Geschichte vom Pharao, welcher erst von mageren und dann von fetten Kornähren geträumt - danach von erst fetten und danach mageren Kühen. Und Leberecht erinnerte sich an die kurzen Bemerkungen Goethes, die wir in den Orphischen Urworten finden, und welche soviel besagen, wie - dass es kein Ausweichen gibt von dem Wege, der über uns beschlossen ist. 

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Ähnliches kam ja auch in „Dichtung und Wahrheit” vor, wo wir dem Beginn der Autobiografie Goethes entnehmen, wie der Weimarer Dichter vom Gestirnsstand in Bezug auf sich selbst einiges schrieb. Mit dieser Fama war der Politiker im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach ganz am Anfang seiner Biographie tatsächlich aufgetreten. Leberecht, der sich ebenfalls stets mit den Sternen beschäftigt hatte, war diese Passage inzwischen längst unvergesslich geworden:

Am 28’sten August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich: die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig, Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.
Diese guten Aspekten, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten, mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein: denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt.

Nun aber schien der für Carl August in Weimar als Legationsrat dichtende Mann weder ein noch aus zu wissen und fragte im Traum die emeritierte Geistlichkeit - ihn, Leberecht - um Rat?  Der Emeritus wusste aus seinen psychologischen Ritterbüchern genau, dass die Träume keinen Unterschied machen zwischen dem Träumer und dem Geträumten, sondern beide Seiten im Traum vermittels des Träumens jenseits aller trennenden Subjekt-Objetk-Spaltungen zu einer gewaltigen Wirkungseinheit verbunden werden. So ahnte Leberecht also, dass er es selbst sein müsse, um den es im Traume ging. Als ihm dieser Gedanke kam, blieb er stehen, blickte auf und sah sein müdes Gesicht in einer der Scheiben des Schlafraumes widergespiegelt. In diesem Moment schlug von irgendeinem fernen Kirchturm die Glocke zweimal - und das galt dem in solchen Dingen bis an hin zum Wahnsinn sensiblen Greis als gnädiges Zeichen des Himmels, dass es sich nämlich genauso verhalten müsse.

Was soll man nun wählen, wenn man Goethe ist? Die Gnade der frühen Geburt hatte von dem großen Dichter jene Last genommen, heutigentags zwischen Parteien auswählen zu müssen. Nun - Goethe wäre damals sicher kein Linker oder Grüner  gewesen. Er ließ auch allen Klerikern und Kirchenbeamten gegenüber immer deutlich vornehme Distanz walten. Und gemeinsam mit Schiller mokierte man sich manchmal über den Weimarer Generalsuperintendenten Herder, der es tatsächlich versucht hatte, Kant zu widerlegen, was der Königsberger Philosoph ihm nachsichtig und immerhin nur verhalten ironisch in einem Aufsatz öffentlich zum Gegenstand einer klugen Entgegnung gemacht hatte. Die CDU wäre es also auch nicht gewesen … Die Freien Demokraten - na das wäre! Und den Haufen Plebs auf der Straße schon gar nicht. Die kleinen Splitterparteien jenseits der 5%-Marke hätte der Geheimrat sicher als kurioses Phänomen mit ein paar Stanzen im zweiten Teil des Faustdramas erwähnt. Und die AfD? Die wäre ihm in der Masse wohl zu unvornehm gewesen.

Wahrscheinlich - wäre Goethe gar nicht zur Wahl gegangen. Nein - er hätte von seinem Gartenhaus aus verständnislos und voller Trauer auf die in Aufruhr gebrachten wogenden Massen mit ihren unmöglichen Fahnen und Transparenten, auf all die kreischenden und trillernden Omas und brüllenden Jungs geschaut - und sich dann angewidert abgewandt, um sich irgendeiner eingehenden Analyse des Kristallgitters amethysischer Gesteinsbrocken aus Südtirol hinzugeben oder der Entstehung eines kleinen spöttischen Merkgedicht - mit etwa folgendem Beginn zu widmen:

Das Volk, es schreit -
und weiß allein,
dass es befreit wird
niemals sein.

So etwa - in dieser Art. Morgens wäre er dann zum Herzog gegangen - oder in der Kutsche gefahren worden. Und dann hätte man gemeinsam Geburtstagstee oder heiße Schokolade genossen mit ein wenig Gebäck. Und Johann Wolfgang hätte seinen Plan für die nächste Theaterdekade vor dem geistigen Auge des Herrschers Carl August vorüber gleiten lassen.

Vielleicht sollte der Traum hauptsächlich ausdrücken, dass Leberecht sich nicht allzuviel um die Politik in Sachsen kümmern solle, denn wenn er dieses doch täte, dann gliche er ja eigentlich nur dem eher verachteten Großtuer und Großsprecher vom Frauenplan, welcher den viel besseren Friedrich Hölderlin und den armen Ernst Ortlepp abgelehnt, in seinen Tagebüchern verspottet, dagegen selber in eigener Person aber stets vor Napoleon gekatzbuckelt hatte. Und so kam Leberecht zu folgendem Entschluss:

Ich will mich nicht weiter um diese abstrusen politischen Sachen bekümmern. Sonst wäre ich so, wie der schlafrockgewandete Fürstenknecht aus Weimar. Ich will aber die Botschaft des Hermes annehmen und mich deshalb aus der nahenden Apokalypse raus halten. Zudem ich ja am 1.9.2024 gar nicht gewählt habe, da ich da bereits draußen in Ägypten gewesen, muss ich mich auch nicht mehr darum kümmern, wie es mit der Landesregierung zu Dresden weiter gehen wird.

Und es entschloss sich Leberecht also,  wieder zu Bette zu gehen. Er legte sich schlafen und Goethe erschien als Traumbild nicht wieder. Vorerst nicht …

-
Mehr von Leberecht hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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