Märchen, Mythen
und ihre Unterscheidung ...
Märchen sollen angeblich Keimformen für Probleme - noch mehr für deren Lösungen sein? Wenn es doch so wäre … Besonders die beiden von den Grimmbrüdern angeführten Geschichten über den Wolf - der zum einen die Geißlein frisst und zum anderen die Großmutter samt dem Enkelkinde, haben es in sich. Der Böse triumphiert - und Kinder halten das schwer aus. Deshalb wird im Märchen meist doch noch alles gut zurecht frisiert. Mit Hilfe einer besonderen Bauchbehandlung, auf die Mutter Geiß sich offenbar versteht und mit Hilfe eines frommen Jägers, der zufällig vorbei kommt und ebenfalls zur Schere greift. Alles gut, alles gut …
Europa, sagen manche, würde nun bald untergehen? Andere beschwören ihre kommenden großartigen Zeiten. Vielleicht wird die ehemals so bedeutsame Schwester des Kadmos in letzter Zehntelsekunde doch noch gerettet? Genauso wie Rotkäppchen, die kranke Großmutter und alle sechs Geißlein? Aus dem Bauch des verschlingenden Ungeheuers, das sich so listig verstellt wie der Schachspieler als Bauer, würden die Guten - nunmehr wirklich ernsthaft belehrt - wieder hervor drängen und in Zukunft Haustür und Waldwege besser in Acht nehmen. Es gab einmal eine Zeit, in der das möglich war. Schließlich kamen die Kinder des Saturn damals durch die Klugheit ihrer Mütter frei. Und ähnlich entband Christus den Adam und seine Eva aus der Hölle, indem er den Unort selber besuchte und weil der Teufel den Gottessohn am finsteren Ort nicht halten konnte. Dadurch entrannten die beiden Ureltern am Auferstehungstage mit Christus in die Freiheit. Auch in Ägypten fliegt der Vogel Phönix aus dem brennenden Ei seines Vaters alle fünfhundert Jahre verjüngt auf und schlägt aller zeitlichen Vergänglichkeit ein Schnippchen.
Ja - das ist ein uraltes Motiv: Verschlungen werden - und wieder frei kommen. Der Patristiker Hugo Rahner hat 1957 ein kluges Buch darüber veröffentlicht (Griechische Mythen in christlicher Deutung.) So, wie Rotkäppchen und die sieben Geißlein nach ihrer Höllenfahrt kräftig dazugelernt haben dürften, müsste auch das alte Europa dazulernen, denn der Urkasten wird nicht ewig ein gutes Versteck bleiben. Wird Europa in Zukunft klüger und vorsichtiger sein? Wer das jetzt schon weiß, der wäre wohl ein Prophet.
Belehrung sei der Sinn der Märchen … Und die „Umschulung von Böse auf Gut” soll angeblich durch sie leichter gelingen können? Gegenwärtig erleben wir anderes. Die Liebenswürdigkeit der Märchen ist das eine. Aber die Wirklichkeit findet eher in der harten Realität der mythischen Erzählungen ihre Beschreibung. Allen Märchen liegt als Wurzelboden irgendein Mythos zu Grunde. Die Märchen, bemerkte Franz Fühmann einmal zutreffend, seien geglättete und entschärfte Mythen. In den Märchen siege letztlich immer das Gute über das Böse. Im Mythos jedoch, der älter als das Märchen sei (Märchen versteht Fühmann als kastrierte Mythen), geht es nie gut aus. Im Mythos kreist die Kraft des paradoxal Großen und Ganzen ungebändigt und undressiert auf der Bahn und lässt sich nicht abschütteln. Ein Mythos beließe Rotkäppchen im Bauch des Ungeheuers und die Geiß müsse ihre Kinder beklagend ewig durchs Gebirge streifen.
Lasst uns einander weniger Märchen erzählen. Lassen wir uns von niemandem was vormachen. Denn auch die Wölfe haben inzwischen dazugelernt. Die machen gemeinsame Sache mit den angeblich ganz Schlauen. Und sind dabei immer noch ein Stückchen schlauer als diese. Das ist das Ding!
Nun will man am Ende dieses kleinen ins Unreine geschriebene Essays sicher wissen, wer der Wolf und wer das Rotkäppchen ist? Beim antiken Theater war es folgendermaßen: Wenn der Chor seinen Schlussauftritt hatte, erhoben sich die Besucher und wussten die Antwort, ohne dass sie hätte jemand zwingen können, irgendetwas Vorgegaukeltes zu glauben ...
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