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erstes Zwischenstück
Altes und Neues von Leberecht Gottlieb (20)

Der Morgen graute. Leberecht hatte zu schreiben inne gehalten. Kindheitserinnerungen kamen ihm immer wieder in die Quere. Sie waren da. Überall waren sie und lugten täglich aus den Falten des Tages - noch mehr aus denen der Nacht hervor. Auch mit ihnen galt es Frieden zu schließen. Je älter wir werden, um so mehr müssen wir Frieden schließen mit allem Gewesenen. Und solch Friedensschluss  gelingt manchmal tatsächlich. Am meisten durch freundliche Erinnerung - und darauf folgendes Vergessen. Denn Menschen, die nichts vergessen können - sind die nicht verloren? Leberecht Gottlieb fünfunddreißig Jahre alt geworden, als er zu schreiben begann. Längst ist er nicht mehr der Kleine, sondern aus dem Kleinen war ein Größerer geworden. Einer, der damit Ernst machte, alles aufzuschreiben von dem was war, ist und gewesen sein wird. Warum? Um solches Geschriebenes durch das Aufschreiben erst zu erinnern und dann als Erinnertes wieder zu vergessen. Denn nur auf diese Weise war Frieden zu schließen mit der Welt. Etwas Literarisches in der Art des Miguel Cervantes sollte es werden. Dessen Don Quixote liebte Leberecht außerordentlich - jenen Mann, der den unmöglichen Traum bis hin zum Wahnsinn zu leben sich getraut hatte. Oder wie wäre das? Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Aber das hatte schon ein anderer geschrieben - und war total tabu.  Wie hoch ist der Gipfel, den es zu besteigen gilt, wenn man erinnern will - um vergessen zu können? Einfache Erfüllung für diese selbstgestellte und zugleich maßlos überfordernde Aufgabe gab es keine. Denn die anspruchsvolleren Leserinnen und Leser lieben einfache Lösungen seit jeher nicht. Erst ganz am Ende muss sich alles, aber auch nur wieder halb, auflösen - und dabei immer noch recht vage bleiben. Ja, - es muss schon irgendwie gut ausgehen, zugleich aber auch nicht, - auch Opfer müssen gebracht worden sein. Übrigens – er für seinen Teil würde den Genderwahnsinn nicht mitmachen. Deshalb strich Leberecht das „Leserinnen und“ wieder aus und beließ es bei Lesern.

Damit hatte er den Faden wiedergefunden: Ja, – diese Putzfrau, die Globnichs NICHT am Todesmorgen im Hospiz aufgewischt hatte, bekam kurzerhand den Namen „Gender“. Gender würde sie heißen – bis in alle Ewigkeit. Gender – das klang irgendwie sogar ein bisschen nach Türkei, nicht wahr? Der Charme des Orients lag in diesem Namen, wenn man ihn Dschendar aussprach. War fast wie Janitscharenmusik. Und überzeugend. Eine türkische Putzfrau namens Gender, egal ob Vorname oder Nachname. Sie hatte das NICHT des ehemals römisch-katholischen und dann rotkommunistischen Hospizinsassen Globnich, der glaubte, Atheist geworden zu sein, mir nichts dir nichts weggewischt. Schwamm drüber. Aber – so einfach ist es eben doch nicht. Auch dieses ungesagte NICHT, jedes noch so kleine NICHT bleibt schwach vibrierend in der Helle des ehemals kleinen Leberecht und nunmehr erwachsen gewordenen Leberecht Gottlieb bestehen und pflanzt sich fort. So, wie eine kreisförmige Welle entsteht, wenn eine Mücke unabsichtlich und nur kurz mit dem Füßchen den stillen Spiegel des Weihers in der Mitte des Waldes berührt – und in Folge dessen die Kreise bis hin an das Ufer der festen Wirklichkeit sich ausbreiten – genauso hatte auch das beabsichtigte NICHT Globnichs seine Wirkungen. Es war ja (zumindest ansatzweise) gedacht worden und damit tatsächlich zur Ursache für irgendetwas geworden – und somit auch geblieben. Und außerdem – Gender war eigentlich gar keine richtige Frau. Sie war weit mehr. Sie war eine Avatarin aus der Helle. Sie war Persephonais Dienerin mit dem Haderlumpen und tausend Aufträgen, alles einzusammeln und zu sichern, was da jemals war und gewesen sein wird. Nichts durfte umkommen im unterweltlichen Totaluniversum der sicheren Erinnerung und Geltung. Kein Tüttelchen, wie Luther einst übersetzt hat.

Leberecht Gottlieb löschte also den Text von Globnichs Rettung durch die Hand der palliativen Friederike, löschte den leisen Gesang dieses ungemein schönen Weibes mit der dunkelbraunen Haut, die wehenden Haare – alles wurde gelöscht. Dann tat diese Löschung Leberecht aber auch wieder leid. Und schwupp – war der Text wieder da. Die UNDO-Taste macht es möglich. Er löschte wieder, machte das Löschen rückgängig und löschte. Dann machte er es, wie er es immer machte. Er speicherte die Globnich-Frederique-Gender-Datei bei Dropbox in der Wolke, ordnete ein Passwort mit vielen Sonderzeichen und „qpdbmn“ zu, ohne sich dieses Schlüsselwort irgendwo aufzuschreiben. Schon nach einer Stunde war das Passwort aus seinem Hirn weg – und die Datei aus dem Hospiz nicht mehr zu öffnen. Obwohl sie noch da war! Schon die Welt ist fast die Hölle … Nun gab es sie zwar noch, die Möglichkeit, dass sogar Globnich das große „IST GERETTET“ im Himmelreich stammeln könnte, aber wer kam an das vergessene Passwort heran, das Leberecht unabsichtlich erfunden und absichtlich vergessen hatte? Ein Trick … für Sein und doch Nichtsein. Das war die Antwort.

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Autor:

Matthias Schollmeyer

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