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Altes und Neues von Leberecht Gottlieb (22)

Es bedarf keiner großen Erklärungen und Hinführung - der Leser wird es längst selber bemerkt haben; Kurt Globnich war der Staatbürgerkundelehrer auch Leberecht Gottliebs. Vier Jahre lang. Von 1973 bis 1976.

Jetzt schrieben wir bereits das Jahr 1989. Alles hat seine Zeit - und jedes Ding unter dem Himmel Datum, Gelegenheit und Stunde. Leberecht beispielsweise war am 23.Mai des vierzigjährigen DDR-Jubiläumsjahres zweiunddreißig und Kurt Globnich einen Tag später achtundfünfzig Jahre alt geworden - beides zusammen ergab die Zahl Neunzig. Alles, was man mit der Neunzig multipliziert, ergab in seiner Quersumme die Neun. Und das war schon was - und war ein Mysterium. Leberecht hatte seit drei Jahren bereits eine Hilfspredigerstelle in der Pfarrstelle Plötnitz angetreten. Hatte aber Globnich nicht vergessen. Denn auch hier in Plötnitz begegnete er ähnlichen Globnichs wie dem aus Pottsitz und Mumplitz. Ja - diese Leute gab und gibt es überall.

Kurt Globnich hatte im Jahr 1976 anlässlich der nun fälligen Maturaprüfung Leberecht Gottlieb (extra ihn!) im Fach Staatsbürgerkunde examiniert und - habe ihm leider nur die Note vier vergeben dürfen. Denn Leberecht weigerte sich beharrlich, den von Globnich geforderten Klassenstandpunkt einzunehmen. Diese Weigerung begründete der Schüler mit Hilfe eines polnischen Aphorismus, der da besagt, wie manche unter einem weiten Horizont leben dürfen, andere dagegen nur einen Standpunkt einzunehmen befähigt wären. Das hatte dem renitenten Leberecht die Zensur Vier und eine dieser Vier wegen abgesenkte Durchschnittsnote eingetragen. Durchschnitt hin und her - die Gesamtzensur war zugleich Endzensur und bedeutete ebenfalls auch das Ende jener unseligen Zeit unter Globnichs ideologischer Fuchtel. Doch musste Leberecht Gottlieb bereits nach einigen Monaten schulischer Freiheit am 2. November 1976 zum Armeedienst der Nationalen Volksarmee einrücken. Hier sollte er das Schießen erlernen, das Fahren mit schweren Automobilen und in Sonderheit den Hass auf die Klassenfeinde. Soweit dieser Blick zurück in die Vergangenheit.

Nun aber - als kleine, wenn auch verspätet private Racheaktion, das war ja wohl noch erlaubt - sandte der Vater des Lebenden dem Sohn des Verstorbenen ein pfarramtlich gesiegeltes Amtsschreiben ins Haus. Sachverhalt: Einebnung einer ausgelegenen Grabstelle. Staatsbürgerkundekurt konnte dem Leberecht nichts mehr anhaben (dachte Martin Gottlieb), – deshalb die Aufforderung in aller Präzision, Härte – aber auch Korrektheit. Am 3.11.1989 muss abgeräumt sein. Globnich aber ließ nicht abräumen, denn die Wirren des begonnen habenden Umsturzjahres 1989 ließen Globnich das Anschreiben des Landgeistlichen von Pottsitz an den Lehrer des Marxismus-Leninismus - schlichtweg irgendwie glatt vergessen. Die alte Melmerten hatte 1989 treu wieder die Totenkerze zum Grabe Meinrads gestellt – aber in diesem Jahr seltsamerweise nicht wieder abgeräumt. So nahte der vierte November, dann der fünfte, der sechste, der siebente, der achte und der neunte. Erst zum Elften erinnerte sich Globnich des Schreibens mit dem Kirchensiegel, welches den Heiligen Martin vorzeigte, wie er dem Bettler die Hälfte des Mantels mit dem Schwert geradewegs abtrennte. Ritsch – ratsch.

Den Termin vergessen! Sofort ließ Globnich ein paar seiner Genossen das Einebnungs-Werk vollbringen und Vollzug melden. Globnich war nämlich auch Mitglied der Kampfgruppe. Und nahm daselbst einen höheren Dienstgrad ein - Stellvertreter des Geschützführers. Alles verschwand. Stein, Einfassung, Sockel und Thuja-Bepflanzung. Die Genossen waren in EinStrichKeinStrich und Stiefeln erschienen und haben für ihren Vorgesetzten den Sachverhalt erledigt.
 Was aus der Gebetskerze der Frau Melmert geworden ist? Wir wissen es nicht. Trug Kurt Globnich ihr Licht mit nach Hause? Oder war es in jene Tonne gewandert, welche für den Plastikmüll auf dem Friedhof nahe eines alten Eibenbaumes platziert worden war? Was geschah mit der Gedächtnisgrabkerze Joseph Meinrad Globnichs, des frommen Apothekenbesitzers aus dem Sudentenland? Erst viel weiter unten können wir die Leser mit der Beantwortung dieser Frage erfreuen und in Erstaunen versetzen. Versprochen. Bisher nur dies - allein Gott weiß, wohin Kerzen kommen, wenn sie ausgebrannt sind. Nichts auf dieser Welt geht ja unwiederbringlich verloren. Globnich aber wusste von solche Sachen nichts. Er verlachte die heiligen Dinge prinzipiell. Es war, als ob der Name “Glob-Nich“ nach Art eines formelhaften Algorithmus’ ihn dazu zwang, „nicht zu glauben.“ Alles dasjenige nicht zu glauben, woran von Allen an jedem Orte und zu beliebiger Zeit geglaubt worden war. Globnich wollte nicht glauben - obwohl er öfter behaupte, er könne es nicht.

Dafür aber versuchte er als Lehrer andere Menschen - besonders auch die ihm anvertrauten Schüler - hinsichtlich der Gültigkeit uralter Numina zum Lachen und Spotten zu verführen. So einer war Globnich. Er ließ alle seine Schutzbefohlenen mindestens einmal im Jahr die zweite Strophe der Internationale singen, denn, wie wir weiter oben bereits andeuten wollten, war dieser Mann zu allem Unglück auch der Musiklehrer für die jungen Leute, zu denen ab dem September 1973 auch Leberecht Gottlieb gehören sollte.

„Es rettet uns kein höh’res Wesen,

kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

Uns aus dem Elend zu erlösen

können wir nur selber tun!

Leeres Wort: des Armen Rechte,

Leeres Wort: des Reichen Pflicht!

Unmündig nennt man uns und Knechte,

duldet die Schmach nun länger nicht!“

Besonders diesen Pastorensohn ließ Globnich - und zwar mit Vorliebe - jene besonders hässliche Strophe vor der Klasse anstimmen. Im ersten Jahr hatte Leberecht dabei noch weinen müssen. Oh, – dass er den Gott seiner Väter per Lied des Belgiers Eugene Pottiers zu verraten gezwungen wurde. Und dass er die Musik, die er doch so liebte, missbrauchen musste, um eine gute Zensur zu bekommen – das war wohl schon ein kleines Stücklein aus der Hölle, wie Leberecht sie sich nicht vorstellen wollte - und immer mehr zu spüren bekam, je länger er die TORTURA GLOBNICHI zu erdulden hatte. Es schien also eine böse Hölle zusätzlich zur Helle Leberechts tatsächlich zu geben. Und die Menschen in ihr waren zugleich die Gequälten und die Teufel als ein und dieselben Personen.

Nun aber war dem Peiniger Rache geschworen worden. Obwohl man ja eigentlich nicht schwören sollte … Aber was hilft es. Leberecht betrachtete Kurt Globnich einer besonderen Spezies entarteter Teufel als verschrieben und ihnen zugehörig. Als deren Vertreter war dieser Mann aus der Hölle zu ihnen hinauf gedrungen. Was hatte er hier oben verloren und deshalb zu suchen? Globnich war in den Gedanken von Leberecht bei Licht besehen die krasseste Fehlbildung eines jener Teufel, welche, wie wir bereits weiter vorn gelernt haben, bei Aides eine wirklich wichtige und anspruchsvolle Arbeit ableisteten. Ja - eine entartete Fehlform der ehrlichen Teufel - das war Globnich. Und der Allmächtige hatte ihm das Haupt erheben und den Unhold mit erheblicher Macht ausrüsten wollen, um Abiturienten zum Weinen zu bringen. War das nicht schlimm?

Zum Schluss dieses Kapitels soll aber auch berichtet werden, wie Leberecht doch noch über Globnichen gesiegt und an der Verpapelung Gottes nicht schuldig geworden war. Es gab in der Klasse einen kaum beachteten Schüler, dessen Leistungen stets mittelmäßig und vom Lobe deshalb ausgeschlossen blieben. Der saß hinten in der Ecke des Klassenraumes, war von bleicher Gesichtsfarbe und seine Eltern arbeiteten in einer Druckerei am Rande der Stadt. Der Name dieses Mitschülers war Leberecht entfallen - auch nach langanhaltendem Sinnen tauchte er aus den Nebeln der Vergangenheit und Gedanken nicht wieder auf. Nur eine vage Erinnerung gab es daran, dass irgendeiner vier Jahre lang in seiner Ecke gesessen und das Beispiel großer Unbeachtetheit hinterlassen hatte. Genau dieser Schüler nun erwies sich als guter Kamerad, denn er sagte, Leberecht müsse nicht so laut mitsingen. Beim leisen Singen nämlich könne man es sich erlauben in der Zeile: „Es rettet uns kein höh’res Wesen, / kein Gott, kein Kaiser noch Tribun“ einfach so zu singen: „Es rettet uns ein höh’res Wesen, ein Gott, kein Kaiser noch Tribun.“ Durch das Weglassen der beiden „K“ sähe die Sache ganz anders aus. Er zumindest singe es immer so - und hätte es auch nie anders anstimmen wollen. Das Ohr Globnichs - so der namenlose Kamerad - dichte sich das „K“ unerklärlicherweise selber immer mit hinzu, so dass dieses Ohr zweimal ein „Kein“ zu hören glaube, obwohl doch ganz deutlich zweimal das „Ein“ gesungen worden wäre. So einfach ist es manchmal. Aber nicht immer ...

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mehr Geschichten von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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