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die Waffen Wilhelm Weischedels
Altes und Neues von Leberecht Gottlieb (26)

Nun kommen Erinnerungen an die Reihe, welche uns Kurt Globnich und Leberecht Gottlieb im Wettstreit über den Besitz der sogenannten Wahrheit zeigen.

Leberecht Gottlieb, geboren am 23. Mai 1957, ging vier Jahre lang durch den Unterricht Kurt Globnichs. Staatsbürgerkunde und Musik. Globnich war einen Tag früher als Leberecht geboren worden, an jenem Tage also, welcher bis auf den heutigen Tag Wagnern, jenem Musikanten gehört, welcher in Bayreuth sein zu Hause gefunden hatte, ehe er siebzigjährig zu Venedig an den Kanälen mit den goldenen Gondeln sein Leben vor Cosima aushauchte.
Leberecht war nahe Meißens im Sächsischen geboren, Globnich im Jahre 1931 im Sudetendeutschen Tiefengrün und Richard lange vorher in Leipzig, von dem Goethe behauptete, es wäre eine Art saxonisches Paris. Aber das alles nur nebenbei – es muss uns der sorgsam abgemessene Tanz der Tag- und Jahreszahlen erst viel später interessieren.


Leberecht liebte Wagner - Globnich hasste ihn. Unterricht bei Globnich war deshalb auch immer demütigend. Globnich verlachte den Komponisten des Rings und Parsifals, Leberecht verehrte ihn als Meister. Globnich benutzte jede Gelegenheit und erschuf dieselben sogar, um die Überlegenheit des sogenannten historisch-kritischen Materialismus und des Marxismus-Leninismus im Blick auf den deutschen Idealismus und in Sonderheit auf das Christentum durch musikalische Beispiele und deren mehr oder weniger zutreffende Einspielungen vermittels eines alten Schallplattenspielers zu demonstrieren. Im ersten Jahr der “TORTURA GLOBNICHI“, wie Martin Gottlieb, Vater Leberechts, diese vierjährige Zeit tiefsinnig nickend benannte, war der Schüler aus dem Meißner Gymnasium zuweilen weinend nach Hause gekommen. Dann hatte ihm die Mutter Süßspeisen zubereitet, mütterlich mitleidend kredenzt und das Lieblingsgefrorene Leberechts (Pfirsich mit Erdbeere) hatte die Waage der seelischen Kräfte dem Knaben wieder ins Gleichgewicht bringen helfen.

„Vergib ihm, er weiß nicht, was er tut!“ sagte der Vater spöttisch; Leberecht aber war nicht so nachsichtig. „Er weiß genau, was er tut!“ rief er. „Für diesen Fall kommt er in die Hölle!“ lachte der Vater und erklärte seinem knapp Sechzehnjährigen ein paar Details aus dem Fachgebiet der kirchlichen Dogmatik, deren Details ungefähr aussagen, dass man nach katholischer Lehre nur auf Vergebung hoffen könne, wenn man die bösen Dinge unwissentlich getan hat. Und dann sagte er noch etwas, was er vielleicht nicht hätte tun dürfen. Er sagte: “Die Globnichs waren früher mal katholisch. Im Sudetenland. Sie haben den alten Väterglauben jedoch abgelegt, um hier in der Fremde bessere Chancen im Blick auf ein Fortkommen zu haben. Und der Kurt Globnich, dein Lehrer, war in Tiefengrün ein begabter Vorsänger und Ministrant. Deshalb musste er an eurer Schule auch Musiklehrer werden. Die anderen “Genossen Pädagogen“ haben ja von Musik keine Ahnung. Du musst sie mal hören, wenn sie auf ihren Betriebsweihnachtsfeiern „Stille Nacht“ anstimmen. Grau-en-haft. Schlimmer ist nur noch “Sind die Lichter angezündet“. Und mit der Staatsbürgerkunde erfüllt dein armer Lehrer sich den Wunsch nach einer geschlossen Welt mit durchschaubaren Regeln. Das ist der Rest seines untergegangenen Katholikentums.“ 

„Aber Martin!“ rügte jetzt Leberechts Mutter ihren Ehemann. „So etwas sagt man doch nicht. Da könnte man ja von Dir auch Ähnliches behaupten, oder?“ Leberechts Vater blickte irritiert – und verzog sich in sein Amtszimmer zu den Büchern - den Freunden der Gescheiten. Bücher sind die besseren Menschen. Aber wie hell blitzten nun die Augen von Leberecht auf. Hatte er da eben gezeigt bekommen, wo unter Umständen Munition für irgendetwas lag und nur darauf wartete, dass man sie fände, hebe und benutzte? Jawohl. In welcher Waffe dieselbe zu verschießen wäre, solches musste sich aber erst noch in Erfahrung bringen lassen …
Nun - diese Waffe zeigte sich eines Tages. Fast wie von selbst. Als nämlich im dritten Jahr der Tortoura Globnichi Leberecht wieder mit der Internationale dran war, schritt er diesmal strahlend zum Lehrertisch nach vorn. Die enorm lange Martina Lehmann setzte sich an den schwarzen Bechsteinflügel und schlug die ersten Akkorde der Internationale an. Und dann sang Leberecht aus Herzenslust:

„In Stadt und Land, ihr lieben Leute,

w i r sind die stärkste der Partei’n.

Die Müßiggänger schiebt beiseite!

Diese Welt muss unser sein;

Unser Blut sei nicht mehr das der Raben,

Nicht der mächt’gen Geier Fraß!

Erst wenn wir die vertrieben haben,

dann scheint die Sonn’ ohn’ Unterlass!

Globnich war während des exzellenten Vortrags rot und blass geworden. Aber er hatte auch nicht „Aufhören!“ gerufen. Er wollte den schamlosen Gesang ganz anhören und dann mit aller Härte die Verpapelung des heiligen Liedes strafen. Die Martina hatte wirklich sehr gut gespielt. Sie war auch die Tochter des Direktors der sozialistischen Lehranstalt in Meißen am Elbestrom. In die nach dem Gesangsvortrag entstandene große Stille des Klassenraumes hinein sagte der Pastorensohn Leberecht Gottlieb mit langsamer und deutlicher Stimme: „Das war die dritte Strophe der Internationale, Herr Globnich. Sie haben es natürlich sofort erkannt. Diese Strophe besagt, dass uns allen erst dann die Sonne scheinen wird, wenn wir die Müßiggänger, Raben und Geier vertrieben haben werden.“

Globnich erinnerte die dritte Strophe nur vage. Er stellte sich aber so, als ob sie ihm vollumfänglich bekannt wäre. Geistesgegenwärtig fragte er den Sänger: „Und wer sind denn diese Müßiggänger, Raben und Geier, bittschön - nicht wahr, bittschön?“ Und verfiel dabei in den alten sudetendeutschen Dialekt seiner Kindheit. Leberecht sagte noch langsamer als er je etwas langsam in dieser Welt hinaus gesagt hatte: „Es sind diejenigen, von denen ich gesungen habe – und zwar namentlich Müßiggänger, Raben und Geier. Und wir kennen sie genau!“ Dann setze er sich. Alsbald ertönte das Klingelzeichen und die Schulklasse strömte hinaus in den Juli. Es war nämlich der letzte Schultag vor den Ferien gewesen. Globnich blieb allein im Unterrichtsraum zurück. Er hatte eben den ersten Tag jener Zeit erlebt, in der er Schritt um Schritt würde völlig entmachtet werden.

Leider nicht schon im ersten Jahr der Tortoura Globnichi erhielt Leberecht von seinem Patenonkel aus Erlangen das zweibändige Werk Wilhem Weischedels zum Geschenk. Der gute Onkel hatte von jenen Bedrängnissen gehört, in denen sich sein pubertierender Patensohn schulhalber befand und es für ratsam erachtet, mit einem guten Buche auszuhelfen. Der Titel des Buches lautete: „Der Gott der Philosophen“ und der Philosoph, der das Buch geschrieben hatte, war der oben genannte Berliner Professor. Weischedel stammte aus dem  Umkreis Württembergischer Pietisten und wusste deshalb genau, warum er dieses Buch geschrieben hatte. Das aber nur nebenbei. „Grundlegung der Philosophie im Zeitalter des Nihilismus“ lautete der Untertitel. „Lies das, mein Sohn!“ sagte der Onkel. „Wenn du es richtig verstanden hast, bist du der Unbesiegbare!“

Leberecht nahm das Buch und verzog sich auf sein Zimmer. Er schlug es auf und las es an, danach weiter – und schließlich durch. Dann begann er wieder von vorn und las es vollständig noch einmal. Und noch einmal. Wir können hier nicht darauf eingehen, warum ein sechzehnjähriger Nicht-mehr-Knabe im Sommer 1975 ein Buch las, das vom Sommer auch nicht nur andeutungsweise handelte. Davon soll zu einem späteren Zeitpunkt die Rede sein. Vorerst sei nur angemerkt, dass Leberecht wohl bereits damals dabei war, in die Hölle und damit tatsächlich in die Helle des Denkens hinab zu trudeln. Und das Buch war sozusagen das feste Geländer an den morschen Hängebrücken, die in die schwankenden Tiefen solcher geistigen Höhen hinabführten. Wozu doch Patenönkel gut sein können.

Als die Ferien vorüber waren und die Schule wieder begann, begann auch für Kurt Globnich eine neue Zeit. Eine sehr schwere Zeit. Den Leberecht zu drangsalieren - damit hörte er bald auf … Denn von Woche zu Woche wurde der Lehrer vom Schüler coram publico immer mehr in Gespräche verwickelt, die am Ende stets zu Ungunsten des Älteren ausgingen. Leberecht hatte sich da eine Waffe geschmiedet, gegen die die AK 46 aus der Waffenkammer der Kampfgruppe Globnichs nur billigen Schrott darstellte.

Gegen die Heimtücke und das Ressentiment Globnichs trat nun das Argument und die Begründung Leberecht Gottliebs an. Gegen den Kleingeist das Wissen. Gegen die Barbarei quasibyzantinischer Denkfiguren die klaren und logischen Sentenzen Immanuel Kants. Das Schwert des Geistes war mit dem Buch des Erlanger Onkels in das kleine Städtchen Pottsitz bei Meißen gelangt. Und besonders zwei hatten an seiner Schärfe Anteil. Der eine als Schlagender - der andere als der Geschlagene. Die meisten aber als Zuschauer eines höchst interessanten Kampfes, in dem der Geist gegen die Dummheit aufbegehrte und der, solange die Weltkugel sich drehen wird, tobende Bürgerkrieg zwischen klug und blöde nicht müde wird abzuebben. Leberechts Schwert wurde von Streich zu Streich fester und fester geschmiedet, um so mehr der junge Mann beim Reden zunehmende Lust am Denken zu spüren begann. Mit jeder papiernen Weischedelseite, die er umblätterte, ward Globnich ein Stückchen weiter zurückgeworfen und hinabgedrängt in die Enge seiner armseligen Welt, der er für den Judaslohn eines Lehrergehalts sich zu unterwerfen hatte, welches man ihm am Monatsende auszahlte, aber nur dann, wenn er vor dem Arbeiter- und Bauernstaat wohlgefällig gedient hätte. Ja, so denken jungen Leute, die noch nicht selber ihr Geld verdienen müssen, sondern ihre Füße zu Hause unter einen von anderen nicht selten mühsam gedeckten Tisch stecken dürfen und solchen Zustand als den normalsten in der Welt hinnehmen.

Nimmermehr vermochte Globnich nun zu obsiegen – die TORTURA GLOBNICHI wechselte vom genitivus objektivus  zum genitivus subjektivus. Wie es halt zugeht in dieser Welt: Globnich begann sich vor jeder Staatsbürgerkundestunde in der Leberechtklasse zu fürchten. Hätte Kurt Globnich gewusst, dass Leberecht jede freie Minute seiner Ferien und auch noch jetzt in der Schulzeit jede freie Stunde nutzte, um den Berliner Professor Weischedel zu begreifen, sich also ebenfalls sehr darum mühen musste, um im Kielwasser der klugen Überlegungen des Philosophen nicht zu kentern, wenn Globnich gewusst hätte, dass sein Schüler also selber ebenfalls große Opfer zu bringen hatte, um sich mit Argumenten gegen den einfachen und primitiven DDR-Materialismus des Lehrers zu wappnen - hätte er das also gewusst, dann wäre er wohl getröstet gewesen. Aber seiner unbestimmbaren Angst wegen, argumentativ besiegt werden zu können immer und immer wieder, kam Kurt Globnich auch nicht andeutungsweise auf die Idee, dass genauso, wie er litt - der Pastorensohn leiden musste. Nebenbei sei bemerkt - ein manierlicher Materialismus ist nicht unbedingt das Allerschlechteste. Leider hat er verlässlich zumeist als unerbetene Gäste irgendwie immer auch die Dummen auf seiner Seite. Dummheit - das war bekannt - ist reichlich vorhanden und weit verbreitet. Denn die meisten gehen am Nur-Materialismus nicht vorüber, um danach an dem großen Tische der Weltanschaungen sich erst einmal umzuschauen. Nein - sie greifen gleich das Erstbeste heraus und bleiben dabei. Und das ist ein großer Fehler.

Wüsste Globnich von der Mühe Leberecht Gottliebs beim Lesen des Buches, hätte er vielleicht sogar triumphiert. Aber er ahnte nicht, was sich in der Seele des jungen Menschen Leberecht abspielte. Als er selber so alt wie dieser Pfarrerssohn, war er ein Flüchtlingskind ohne Rechte aber mit tausend Verpflichtungen gewesen. Bücher? Die waren damals kein Thema. Irgendwas zu Fressen finden. Das war das Thema. Wüsste Globnich, in welcher Weise er Leberecht Gottliebs Leben nicht gerade zerstörte, aber doch zumindest erheblich gestört hatte, wäre er damals nicht so deprimiert gewesen, wie er es jetzt offenbar tatsächlich immer häufiger an sich erleben musste. Voller Grauen betrat er wöchentlich das Klassenzimmer, wohlwissend, er würde nicht auf eine einzige jener Fragen antworten können, die ihm auch heute wieder gestellt werden würden. Aber was hätte er davon gehabt, wenn er in Erfahrung brächte, dass Leberecht durch ihn, Kurt Globnich, auf die verhängnisvolle Schweißfährte des exzessiven Denkens geraten war. Triumph? Genugtuung oder etwas in der Art? Weil Globnich selber nie ein Denker gewesen ist, hätte er mit einem solchen Sieg gar nicht viel anfangen können. Punktum.

Leberecht jedoch weiß von solchen Dingen inzwischen viel und mehr. Spät im Leben kommt die Erkenntnis. Erwachsener geworden durchschaute der Landgeistliche Leberecht Gottlieb das zarte Zufallsgeflecht seines über die Zonengrenze Bücher schmuggelnden Onkels mit dem Berliner Pietistenphilosophen im Gepäck einerseits und seiner damalig knabenhaften Wenigkeit andererseits. Er ahnte das Gewebe der Parzen und kennt längst die Rolle Kurt Globnichs im eigenen Leben als Leberecht Gottlieb. Jener Feind, den er damals hatte, war wirklich gefährlich. Aber jener Feind ist für uns am gefährlichsten, welcher uns nur deswegen siegen lässt – um von ganz oben, direkt im Augenblick unseres Durchmarschs - die Triumphbögen polternd über uns einstürzen zu lassen, unter denen wir stolz dahin ziehen.

Auch deshalb will Leberecht als Autor vorsichtig bleiben. Und er schickt den Kurt zwar jetzt erst einmal in die Hölle hinunter und vom Himmelsportal weg. Aber es ist ja auch  nur die Hölle der der alten Helle von ehedem aus Kindertagen, mehr oder weniger also der lichte Schatten des ohnehin unbeschreiblichen Empyreums. Der Quäler von einst soll zwar zum Gequälten von jetzt werden. Die Mittel der Literatur macht solchen Austausch möglich. Nach wie vor ist für Leberecht Gottlieb die Hölle nicht allein der Ort dumpfer barbarischer Grausamkeit und primitiver Quälerei. Sie soll die Stätte beharrlichen und erfolgreichen Lernens bleiben, – wenn auch eines sehr, sehr langsamen Lernenmüssens. Auf diese literarische Haft lässt Leberecht seinen Lehrer Kurt nachsitzen. Nicht eine Dreiviertelstunde bis zum Klingeln, sondern in der unendlich sich dehnenden Ewigkeit des Purgatoriums soll er brummen. So rächt sich Leberecht an Kurt. Über den Lehrer Globnich hält der ehemalige Schüler Gericht …

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Autor:

Matthias Schollmeyer

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