... jetzt wird es ernst!
Altes und Neues von Leberecht Gottlieb (32)
Leicht ist's und wiederum doch auch nicht zu leicht, alle jene Personen aufzuzählen, welche in der irdischen Zeit des Leberecht Gottlieb eine Rolle gespielt hatten, ehe er selber an den rätselhaften Ort gekommen, wohin wir alle einmal geraten werden, wenn uns die Parze die Schere klirren lässt und dem bisher gesponnenen Zeitfaden seine endgültige Länge zumisst. Im Falle unseres Helden wären da zuerst einmal jene fünfhundert Zeugen, denen Leberecht im Laufe seines Dienstlebens christliche Grabreden verfertigt hat. Zusätzlich noch etwa dreihundert andere Leute, die sich von der Kirche zwar abgewandt, aber trotzdem ein christliches Begräbnis erhalten hatten, weil die Familien darum baten. Diese insgesamt etwa achthundert stehen nun am anderen Ufer der Lethe und winkten dem Nachen Charons zu, auf dem Gottlieb sich einschiffen muss - wie es missverständlicher nicht ausgedrückt werden kann, aber eben genauso wird und heißt.
Diese achthundert hatte er geahnt, denn eine alte Pastorenweisheit erzählt, dass die abgetanen Pfarrer am Tor der großen Entscheidung von den Schatten eben derer empfangen werden, welchen man zu Lebzeiten Grabreden zu halten hatte. Wie in einer antiken Gladiatorenarena üblich gewesen, reckt die Achthundert jenseits des Styx ihre Daumen empor oder senkt sie zur Erde. Daran wurde abgezählt, ob der Weg erst in das ganz tiefe Unten fahren muss oder sich den Läuterungsberg hinauf winden darf. Oder ob es - freilich nur in sehr seltenen Fällen - sofort bis nach ganz oben in den Saal der Verwandlungen geht. Leberecht Gottlieb hatte sein Daumenergebnis vergessen - wahrscheinlich deshalb, weil es nicht optimal ausgefallen war.
Aber auch die anderen Personen dürfen nicht vergessen werden. Die Frauen, die den Pfarrherren verehrt bzw. sogar geliebt - und ihre Ehemänner, welche ihn deswegen hassten. Die trefflichen Freunde von der Schützengilde “Hlg. Sebastian“ und die Lokalpolitiker, welche um Leberechts Rat gefragt hatten, wenn man sich in schwierigen Situationen irgendwie verhalten musste - dabei aber nicht ganz das Gesicht verlieren durfte. Schließlich die Kommilitonen aus der Studentenzeit, mit denen man bei Bier und Wein und in den Vorlesungen gesessen war. Schließlich auch alle Brautpaare, denen Leberecht den Himmelssegen gespendet, die Konfirmanden, welchen er einen Spruch aus der Schrift mit auf den Weg gegeben. All die vielen greinenden Säuglinge, welche - damit dieselben auf diese Weise rituell wiedergeboren würden - durch das Bad der Heiligen Taufe an den Anfang des Neuen Weges, des christlichen Weges, gestellt zu werden Leberecht mitgeholfen hatte. Die Bauern und ihre Weiber, die über den Dorfgeistlichen kopfschüttelnd in der Wirtschaft gelästert. Nicht zu vergessen alle Kranken, die sich sehnlichst wünschten, dieser sonderbare Mann dort aus dem Pfarrhaus müsse sie doch - sollte die Botschaft seines Meisters wirklich stimmen - heilen können vom Elend scheußlichster Gebresten und der Schmach nicht abreißen wollender Schmerzen - wenn schon die Ärzte es nicht konnten.
Sie alle müssten in unserer großen Erzählung am Ufer der Lethe und des stygischen Stromes einen Auftritt bekommen - ihren Auftritt! Zusammen mit denjenigen, welche irgendeiner Sucht verfallen und derselben Gott sei Dank - aber auch der Fürsprache Leberechts wegen - entrissenen worden waren. Die Gefangenen, welche aus den Kerkern nie mehr zurück in die Welt fanden, für die Leberecht gebetet und sie besucht hatte. Die Selbstmörder, die unser Mann von der grausam beabsichtigten Tat abhalten konnte. Weiter dann noch alle Denunzianten und Kollaborateure aus der Herrschaftszeit angeblicher Kommunisten, welchen der Pfarrer großmütig vergeben wollte. Sie alle müssten hier beschrieben werden. Wo aber wäre soviel Platz, wer hätte soviel Papier, dieses Riesenreich von Begebnissen und Informationen zu vermerken?
Nun - soviel sei hier schon angedeutet: Wir sind angetreten, genau diese Aufgabe zu erfüllen. Irgendwo, an irgendeiner Stelle wird irgendwann sich jeder als Irgendwer irgendwie entdecken können. All das, was war - noch mehr aber alles das, was nicht war, ist ja in der Ewigkeit aufgehoben - und es ist nur eine Frage der Zeit und der technischen Möglichkeit, bis es wird gedruckt worden sein - um schließlich wieder vergessen werden zu können. Denn die Wahrheit einer Sache besteht immer aus beiden Seiten. Aus einer, die alle bereits kennen und der anderen, die bisher verborgen geblieben ist. Im Vergessenwerden tun sich diese beiden Seiten friedlich zusammen ...
Zumindest die wichtigsten der oben angeführten Zeugen sollen alsbald Schritt für Schritt zu Wort kommen, indem dieselben vor unseren Augen exemplarisch Gestalt anzunehmen überredet - nicht gezwungen -werden. Wir möchten ihnen allen zuhören und sie genau beobachten. Wir sind bereit, mit ihnen zu weinen und zu lachen. Sie sollen unsere Verehrung, an anderer Stelle auch Verachtung - und damit unser tiefstes Mitgefühl erfahren. Denn wir haben jene Geschichte zu erzählen, welche Leberecht Gottlieb vergessen muss. Deshalb fuhr er den Fluß erst hinab - und dann auf ihm auch wieder empor. Auf dem Fluss, den die Griechen Lethe nennen - das bedeutet „Vergessen“. Das Gegenteil dieses vergessen machenden Stromes ist und bleibt das feststehende Gebirge ewiger Wahrheit, von den Griechen, die auch jenem Fluss den Namen Lethe gaben, A-Lethaia genannt. Alethaia sagen deshalb auch ihre Heiligen Schriften dazu. Was Wahrheit wirklich sei, das wissen nur die Wenigsten. Der Römer Pilatus fragt den aus dem Volk der Hebräer abstammenden Gottessohn einmal, was Wahrheit sei. Aber Jesus antwortete ihm darauf nicht. Vorher freilich deutete der jüdische Meister dem römischen Stadthalter an, dass die Wahrheit einem Joch vergleichbar wäre, unter Zuhilfenahme dessen man auf je einer Seite der eigenen Existenz und mit ihr den halben Teil einer großen Last davon trägt. Alethaia sei also etwas, das nicht vergessen werden darf. Aletaia ist ein Gegentum zu dem unbarmherzigen Strom, der alles ins Vergessen wegträgt. Alethaia ist das Gebirge, Fels und unbezwingbare Burg der ewigen Erinnerung an sich selbst. Um aber im Chaos der von Leberecht Gottlieb realisierten Erinnerungen nicht unterzugehen - denn diese Erinnerungen müssen so ausführlich und minutiös als nur irgend möglich Darstellung finden, werden wir nicht sofort alles veröffentlichen können, was die Weltchronik der Palmblätter, oder jene von Rudolf Steiner beschworene Akashachronik in einer günstigen Stunde dem Sozialroboter HelpMeOut preisgegeben haben. Dazu mehr im nächsten Kapitel.
Zugleich ist, lieber Leser, an dieser Stelle auch die Stunde gekommen, die Seiten über Leberecht Gottlieb, Kurt Globnich, Martina Lehmann, Friederique, die alte Melmerten und die anderen alle - jetzt entweder aus der Hand und unter die Bank zu legen - oder den Hergang der auf ihnen verzeichneten Handlung weiter interessiert zu verfolgen, um zu sehen, wie sich deren einzelne Fäden hin und her verknüpfen - und sonderbar wieder entwirren. Einige Leser werden das Buch zuschlagen und kopfschüttelnd bedauern, mit der Lektüre jemals begonnen zu haben. Andere wiederum werden erfreut zu sich selber sprechen und triumphierend sagen: „Ja - das haben wir uns schon immer genauso gedacht.“
Hauptsächlich für Letztere berichten wir weiter, was wir von Leberecht Gottlieb und seinen Abenteuern verraten dürfen. Weil es hierbei immer um Himmel und Hölle geht, um Tod und Leben bzw. Zeit und Ewigkeit, müssen wir uns damit abfinden, dass im Folgenden auch das große Thema der sogenannten Zeitreisen angeschlagen werden muss.
Zugegeben - ein schwieriges Thema. Nicht zu vermeiden jedoch, einige grundsätzliche Überlegungen in dieser Hinsicht anzustellen. Wie bereits gesagt, an dieser Stelle werden sich einige weigern, ihre Phantasie in Anspruch zu nehmen. Der Grund für diese Weigerung besteht meistenteils darin, nicht zu wissen und noch nicht einmal zu ahnen, welches großartige Fahrzeug der Schöpfer uns mit der Phantasie zugesellt hat. Die Phantasie des Menschen ist nämlich die irdische Entsprechung der Freude Gottes, die er seinen verrücktesten Ideen gegenüber hegt und immer gehegt hat. Die Phantasie des Menschen ist die irdische Entsprechung der Freundin Gottes, wie von derselben in einigen - leider nur in Form apokrypher Schriften auf uns gekommen - uralten Überlieferungen berichtet wird. Wir werden auf all das zurückkommen ...
Aber - damit die theoretischen Grundlegungen des Zeitreiseproblems und die mit diesem Thema fortfahrenden nächsten Kapitel für die eher phantasielosen Leser nicht zu langweilig werden müssen, wenden wir uns zunächst dem Sozialroboter jenes Dresdner Altenheims namens „Abendsonnenharmonie“ zu. Betreffs dieses ganz besondere Hauses sei vorerst nur soviel bemerkt: In der Stadt Tübingen (wie bereits seine Eltern) hatte Leberecht nach Erreichung des eigenen Ruhestandes begonnen, seine Alterspension zu verzehren. Ein paar Jahre zwar war er noch im Sächsischen verblieben. Hatte hier oder da ausgeholfen. Sich dann aber abgewandt, weil man sich von ihm abgewendet hatte. Von diesem traurigen Kapitel wird ebenfalls zu berichten sein. Nachdem auch in der Tübinger Seniorenresidenz unhaltbare Zustände um sich griffen - der Bericht hiervon wird dem Leser nicht erspart - , kehrte Leberecht im Alter der Hochbetagten - immerhin zählte er bereits 95 Jahre - wie ehedem Jakob nach Bethel zurück. Heißt, er reiste wieder vom Neckar an die Elbe. Und wagte von hieraus als einer der ersten Zeitreisenden den Weg sowohl in Vergangenheiten als auch in die Zuküfte. Wohlbehalten erreichte er danach erneut die Stadt August des Starken - und bezog das Haus “Abendsonnenharmonie.“
Hatte die technische Entwicklung in der Zeit von etwa 1850 bis 2050 sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt enorm beschleunigt, legte sie in den drei Jahren von 2050 bis 2053, von denen wir in den folgenden Kapiteln berichten müssen, in aproximatischen Dimensionen noch einmal gewaltig an Geschwindigkeit zu. Zwar geschah auch in diesen drei Jahren im Blick auf das Thema der Gotteserkenntnis nichts Neues - soll heißen: Der Alte blieb weiterhin absolut incognito, so dass an der Dogmatik der Katholiken nichts aber auch gar nichts verändert werden musste. Aber - man gewann Zugriff auf das, was früher aus den Palmblattbibliotheken Indiens und den Fabelsprüchen medial begabt kreischender Sibyllen und exaltierter Frauen andeutungsweise bereits kund geworden war und alles Volk meinte, davon vage und irgendwie gehört haben zu können. Und genau davon soll im folgenden Kapitel weitschweifig und interessant Bericht getan werden …
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