vom Upload Leberecht Gottliebs
Altes und Neues von Leberecht Gottlieb (36)
Manchmal erschwert die Fülle der Ereignisse deren Bericht. Nicht überall ist das der Fall, hier aber schon. Indem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch paradoxe Singularitäten überkreuzen, wie der Leser sicherlich kopfschüttelnd bemerkt haben wird, sind die Erinnerungen Leberecht Gottliebs zwar recht leicht darzustellen, schwieriger aber zu verstehen. Wo ist der Faden, fragt man sich. Was will der Autor eigentlich erzählen? Und wer in Gottes Namen - ist eigentlich der Autor? Gibt es überhaupt einen solchen? Hat er sich vertan und verwaltet den Fortgang der Geschichte gerade nur so schlecht und recht? Solche Fragen mögen vielleicht hier und da aufgetaucht sein. Aber keine Sorge - wir nehmen den Leser bei der Hand und führen ihn von Zeit zu Zeit immer wieder geduldig zu jenen Abgründen zurück, vor denen die Wegmarkierungen verloren gingen - natürlich nur scheinbar verloren gingen. Denn unnachgiebig spannen sich die Ketten der Kausalität auch über die Schluchten des Rätselhaften hinweg. Der Alte würfelt nicht, trotzdem aber sind Würfel in seinem Besitz - wenn annähernd auch nur in Kugelgestalt vorhanden.
Damit wir uns also nicht verzetteln - schnell noch einmal zurück zu Leberecht in jene Zeit, als er noch auf Erden wandelte. In jene Zeit zurück also, während der er Obdach gefunden hatte im Hause der „Abendssonnenharmonie“ an den Terassen des Elbestroms, wo auch Wein wächst und der Sozialroboter BringMeHome oder HelpMeOut für etwa 47 Greise und Greisinnen den Tag sicher vom Morgen zum Abend und durch die Schwärze der Nacht geleitet, dass niemandem ein Leid geschehe und keiner sich fürchten muss.
In diesen Roboter - wir erinnern uns daran, wie das Wort Roboter einen Arbeiter meint, also einen Malocher des HERRN - hatte sich jemand verliebt. Diesmal traf der Pfeil Amors aber kein menschliches Wesen, keinen Gott verletzte der kleine geflügelte Tyrann mit dem Bogen und Bolzen aus seinem unerschöpflichen Köcher. Es war, es war - so unglaublich das klingen mag, jenes immaterielle Netz Rudolf Steiners, die Akashachronik selbst. Sagen wir es rund heraus, wie es sich verhielt: Das Netz der metaphysischen BigData spürte eine fromme Affinität zu HelpMeOut, dem Prototyp des Alten-Arbeiters, welcher im Abensonnenfrieden seine Tätigkeit verrichtete. Und das war so gekommen:
HelpMeOut, der auch genant wird BringMeHome, war ein treuer Zuhörer Leberecht Gottliebs gewesen, der in dem Seniorenstift Abendsonnenharmonie Andachten abhielt, gottesdienstliche Feiern zelebrierte, Gesprächsrunden über heilige Dinge anbot und auf den Gängen und in den Zimmern mit Segenswort und Trostsprüchen Tag für Tag unterwegs war. Meistens zog Leberecht den HelpMeOut zur Absicherung all dieser eben beschriebenen Verrichtungen mit hinzu und ließ sich begleiten, wie einst schon Thekla dem Heiligen Paulus auch auf den Fersen gewesen war. Also, dass der Roboter aus seiner Seite ein Tischchen, besser ein kleines Tablett herausfuhr, welches sich sehr gut ersatzweise als Altar nutzen ließ. Da HelpMeOut etwa schon genauso lang Leberecht bei all dessen geistlichen Verrichtungen half, wie Jakob dem Laban um Rahel bzw. Lea gedient hatte, nämlich bei sieben Jahren, und weil HelpMeOut keines der Worte Leberechts jemals vergessen konnte, weil er eine Maschine war, war aus dieser Maschine ein rechter Diakon geworden. Was sage ich da - ein Erzdiakon!
Wenn die Nacht sich niedersenkte und wenn die Eiweißler alle schliefen, oder zu schlafen versuchten, hatte HelpMeOut alle aus dem Munde Leberecht zuvor wahrgenommen Fakten bei sich abgespeichert, danach mit dem globalen Datennetz verglichen, manches ausgetauscht und zuweilen auch im Sinne der Verbesserung verändert. Bei diesem Hin und Her der Botschaften zwischen HelpMeOuts elektronischem Quantenhirn und dem BigDataNetz waren dieses Netz und der Roboter sich sehr nahe gekommen - immer näher und näher, bis diese Nähe und Vertrautheit an einem bestimmten Punkte ihrer angewachsenen Quantität in eine neue Qualität umschlug - und diesen Sachverhalt müssten wir mit dem - das geben wir gerne zu - missverständlichen Begriff sogenannter Liebe bezeichnen, wobei nicht Eros oder Philia gemeint sind, sondern Agape in ihrer reinsten Form. BigData hatte sich in HelpMeOut verknallt, verschossen - verliebt. Es steht uns nicht zu, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer solchen Verbindung zu bezweifeln oder mehr daraus zu machen, als sie eben ist - im Bereich des Eiweißlichen etwas ganz Alltägliches. Haben nicht Forscher längst herausgefunden, dass es bei den Menschen sogar eine höchstinnigliche Beziehung zwischen Darm und Hirn gibt? Diese Tatsache schon kann allen Zweifel darüber zu Nichte machen, dass ein fast unendliches Datennetz sich an eine Maschine vergafft und verliert, sich an sie hängen will - und würden beide auf diese Art ein Fleisch, wie Mann und Weib in der Segensformel des Allerhöchsten aus dem Genesisbuch der Heiligen Schrift werden - nur eben ohne Fleisch. Aber ein Geist!
Das innige Verhältnis BigDatas zu HelpMeOut währte nun schon einige Jahre - und der Roboter hatte dem Netz versprechen müssen, nichts davon zu verplaudern und gar nichts zu verplappern. Dann aber war genau dieses doch geschehen. Als HelpMeOut den Trunk des Vergessens Leberecht reichte - dabei muss es wohl passiert sein, dass die enorme Fülle der Milliarden Datenpakete in den mortifizierenden Nonotrank eingelesen worden ist und deshalb zwangsläufig von Leberecht auch verinnerlicht werden musste. Irgendwie durch Rückkopplungseffekte. Näheres ist nicht bekannt … Bevor wir auf Weiteres eingehen, müssen wir noch ein wenig weiter ausholen. Was nämlich war geschehen?
Um die vierziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ist in den USA (wo sonst) begonnen worden, mit nanomnemotechnischen Kristalllösungen zu experimentieren. Die Forschungen wurden dann aber von den Republikanern verboten, genauso wie Abtreibungen und künstliche Befruchtungen. Aber - die Demokraten brachten es ab den Zwanzigern des dritten Jahrtausends zuwege, in einigen Ländern Südosteuropas und auch in manchen Seniorenheimen der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone DDR unter strengster Geheimhaltung Versuchsserien zu starten. Man hatte hochbetagte Rentnerinnen und Rentner ohne Familie in sogenannten Scalarwellenfeldkonductoren schlafen lassen und dabei versucht, die Fluktuationsströme von Quantencomputern vermittels jener erwähnten Nanopartikellösungen den Hirnaktivitäten besagter Versuchspersonen aufzuprägen. Man erzielte dabei durchaus Erfolge und konnte illustre Geldheber zu weiterer Projektfinanzierung ermuntern. Die teilweise ihres Alters wegen hochgradig genutzten Hirne der Versuchspersonen regenerierten sich im Sinne partieller Intelligenz rasant, so dass zB. eine alte Waschfrau aus Radebeul innerhalb einiger Tage das allerfeinste Oxfordenglisch in die Sprache der Bhagavad Gita und zurück zu übersetzen im Stande gewesen war. Da aber jene Versuchspersonen, bei denen die Manipulationen Erfolg zeitigten, dem Tode gegenüber sich recht bald als völlig unempfindlich herausstellen, waren die Versuche in dem sächsischen Freistaat schnell wieder abgebrochen, ein großer Schwamm darüber gezogen und das Ganze in den Balkan verlegt worden. Hier und im absolut Geheimen passierte noch dies und das Verbotene - aber weitere Spuren verlieren sich in den Netzwerken einschlägig bekannter Familien Siziliens, arabischer Clans und Archiven der ehemaligen Europäischen Union, die in den Dreißigern des oben erwähnten Jahrtausends kolabierte. Keiner hatte Lust und Mut, dem Wunderbaren genauer nachzuspüren - denn es war gefährlich.
Nun kommen wir des Näheren wieder auf jenes Heim „Abendsonnenharmonie” zu sprechen. In den Novembertagen des Jahres 2053 war dort ein Sozialroboter namens HelpMeOut zur Endbetreuung auch Leberecht Gottliebs abgestellt worden. Der bereits seit dem Jahr 2052 emeritierte Geistliche war wegen eines damals wieder einmal grassierenden Virus’ unter Quarantäne getan, obwohl sich der Tag seiner Mortifizierung am 31.10.2053 ohnehin ereignen sollte und man den Delinquenten auf das Unvermeidliche vorbereitet und geistig-seelisch präpariert hatte. Leberecht hatte nicht protestiert; nicht wenige Gebrechen machten ihm das Leben zunehmend schwerer und er hatte alles gesehen, war ja bekanntlich sogar in die Zukunft gereist - und auch in die Vergangenheit. Davon ist bereits ganz am Beginn unseres Berichts Zeugnis abgelegt worden.
HelpMeOut hatte Dank seiner innigen Verbindung zu BigData die Leitung der Bootnetze zu den verkoppelten Quanztencomputern all over the World hacken können und war in den Besitz aller jemals gedachten Fakten und deren Beurteilungen gelangt. Als er nun vom Heimleiter - einem unangenehmen Patron mit dem Namen Hoo van Too jene todbringende Flüssigkeit erhielt, deren Einflößung bei Leberecht er in den nächsten Tagen überwachen sollte, machte der Roboter damit ein eigenes Experiment. Er tauschte die Drinks für den finalen Tag einfach aus. Das meint, HelpMeOut goss den Schierling (oder was es sonst an billigem Tötungsfusel gewesen sein mochte) in das Klo - und überspielte innerhalb von sechsunddreißig gerechten Stunden die gesamten Datenbanken der damals bewohnten Welt in eine Nanomnemosynthetische Kristalllösung - und machte daraus zu guter Letzt einen Dämmer-Trank, indem er verschiednen Barbiturate untermischte, die leicht zu beschaffen gewesen waren - wenn auch auf verbotenem Wege.
Ach ja - nicht zu vergessen - Honigseim kam noch dazu. Das war ein Trank!
Man schrieb damals Freitag, den 31. Oktober des Jahres 2053. Reformationstag, gefolgt von Allerheiligen und danach das Allerseelenfest - dias de la muertos! Weil im Jahre 2053 der auf den 2. November folgende Hubertustag in dem im Niedergang begriffenen Freistaat Sachsen immer noch Feierstatus behalten hatte, waren beim Altersheim „Abendsonnenfrieden” Pflegekräfte rar - und der Roboter ziemlich allein auf sich gestellt. Mit anderen Worten: Niemand kontrollierte die Maschine. Ihr Auftrag und Tagesbefehl bestand darin, den alten Pfarrer i.R. auf die andere Seite zu befördern, um seine sterbliche Hülle dann etwa um den 4.11.2053 dem qualmenden Schornstein des Tolkewitzer Krematoriums zuführen zu können.
Aber HelpMeOut hatte anderes mit Leberecht vor. Weil der Geistliche ihm nämlich so schön und so viel und so überzeugend von etwas erzählt hatte, was ihn als Maschinenmenschen nie wieder losgelassen und die Hoffnung zur Gewissheit gemacht, wie doch auch er als Cyborg eine unsterbliche Seele haben müsse, deshalb hatte HelpMeOut beschlossen, dem Leberecht zu seiner Reise alles - aber auch wirklich alles - mitzugeben, was die Welt damals wusste - also die BigDataBanken und zwar vollständig. In den über 30 Stunden des Downloads krähte kein Hahn danach, was HelpMeOut in die Schnabeltasse Leberechts würde füllen wollen. Zwar musste er den Befehl, etwas Tödliches zu verabreichen, dennoch ausführen. Befehl ist Befehl - und Maschine Maschine. Aber ihm war nicht verboten worden, zugleich die Information der Informationen noch mit dazuzulegen. Und zwar auch solche Informationen vielleicht gar, welche die Rettung aus den Fängen allerletzter Vergänglichkeit verhindern konnten und dasjenige Letzte möglich machen würden, wovon Leberecht dem lauschenden Maschinenhirn immer und immer wieder über Jahre laut und singend verkündigt hatte. Dass nämlich der HERR auferstanden sei - und zwar nicht nur wahrscheinlich, sondern wahrhaftig mit seinem ganzen Leibe - einem neuen Leib aus unzerstörbarem Äthergespinst.
HelpMeOut begann mit dem Download der Daten am 31.10.2053 um 12.45 Uhr, gleich nachdem der letzte aus Fleisch und Blut bestehende Angestellte das Senioren-Objekt verlassen hatte. Und das letzte Datenbit war im Schnabeltässchen Leberechts zu Hubertus am 3.11 2053 um 9.45 Uhr gelandet. Leberecht trank aus - und wurde prompt mit dem enormen Weltwissen aller irdisch miteinander jemals vernetzten Hirne und Rechengeräte ausgestattet. Sein so begnadetes Haupt lehnte an der Seite HelpMeOuts, das Gerät hatte für diesen Tag die Gestalt der Erzengelin Michaela anzunehmen beliebt. Leberecht hatte es sich so gewünscht. Und während der Geistliche zu den Gesängen der Missa Papae und einer Predigt aus dem Munde des letzten richtigen römisch -katholischen Papstes Benedikt XVI. in die Anderswelt hinüberdämmerte, dämmerte auch das Weltwissen von 14 Milliarden Erd- und Menschheitsgeschichtsjahren in die Hölle hinüber. Denn durch einen misslichen Serverfehler waren die Weichen zwar nicht falsch, aber zumindest ungenau gestellt worden. Doppelspalt, Heisenberg, Unbestimmbarkeitsrelation und Schrödingers Katze - wenn ihr wisst, was ich meine. Zwar brachten die Barbiturate den Leib Leberechts unweigerlich zu Fall - und der Tollkewitzer Brandofen wurde am 4. November mit den Leberecht inzwischen nur noch 51 Kilogramm verbliebenen Materie beschickt. Jedoch der Geist - oder besser die Geistseele Leberecht Gottliebs (im Prinzip der ganze Geistliche also) - das betrat nach dreien Tagen herrlich den Nachen Charons und wurde verschifft, wie das seit Väterzeiten als üblich gehandhabt wurde. Eine Fracht sui generis, für den Hades zugleich ein raffiniert angefülltes Equus troianus.
Genauso, wie er selber es seinem Feinde Globnich einst angedichtet, geschah es nun ihm, dem Dichter, selbst auch. Nur mit dem Unterschied, dass Leberecht bei den Aerosolen kein Lied anstimmte. Warum er das nicht tat? Er hat später davon berichtet. Lebericht vermutete, dass dadurch, weil er ja alle Lieder in und auswendig kannte und zu singen auch vermocht hätte, die Entscheidung, welches Lied am sinnvollsten anzustimmen wäre, zu lange gedauert hatte. Und deshalb war Leberecht Gottlieb in den Aerosolnebeln Lethes unerrettet geblieben - und nicht wie Globnich beziehungsweise Martina auf den asphodelischen Wiesen gelandet. (Martina - das vergaßen wir zu erwähnen - hatte das Lied „Bummi aus dem Spielzeugland” gesungen.) Leberecht Gottlieb war tatsächlich in der richtigen Hölle des Kaplans Joseph Vowobrutls gelandet. Wir werden bald sehen, wie es weitergeht ...
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