die Gottesanbeterin
Geburtstagsgabe (16)
Die listige Gottesanbeterin? Sie folgte König Nobels Befehl und schrieb ein - wenn auch verwirrendes - Gratulationskärtchen ...
Gott zum Gruße alle miteinander. Fürchtet Euch und fliehet nicht vor mir! Ich bete gerade nur noch ein wenig an, dann will ich mich Euch zuwenden. Ich bete eigentlich immerzu. Zu wem? Zu mir selbst. Weil - ich bin die Gottesanbeterin. Wer betet sich heute etwa nicht an? Wir haben es darin weit gebracht. Früher verneigte man sich vor Blitz und Donner, dann vor den Göttern, schließlich nur noch vor dem einen theoretisch geklärten Begriff Monotheismus. Jetzt aber beten wir uns selber an. Und so muss es sein. Schaut mich an! In der Klarheit meiner großen grünen Augen spiegelt sich die ewige Wahrheit. Trotzdem muss ich mich vorsehen und immer Obacht geben. Denn die Vögel wollen davon nichts wissen. Sie sind mir auf den Fersen mit ihren spitzen Schnäbeln, diese ungläubigen Unholde.
Jetzt zu Luthern. Stets tat ich so, als ob ich ihn nicht kenne. Ich tue auch nur so, als ob ich betete. Denn ich bete gar nicht. Ich tue so, als ob ich gar nicht da bin. So, als ob ich tot bin. Dadurch kann man mich schwer entdecken. Letztlich tue ich nur so, als ob ich etwas tue. In Wirklichkeit warte ich darauf, dass jemand kommt, dem ich den Kopf abbeißen kann.
Sicherlich habt ihr irgendwo schon einmal von mir gehört. Ich bin die Gottesanbeterin - mantis pseudoreligiosa. Neulich kam es sogar in Euren Nachrichten: Ich breite mich überall immer mehr aus. In Europa. Und besonders in Deutschland. Und ganz besonders in Berlin berichtet die dortige Morgenpostzeitung. Ich zähle unter die Gewinner*innen des Klimawandels und wurde 2027 sogar Tier des Jahres. Kopf gegen Kopf. Gebet um Gebet. Ich mache nicht mit Glocken rum und kreische nicht von spitzen Türmen. Leise verrichte ich meine Haupt-Arbeit. Als stilles Gebet. Ich habe übrigens seit Kurzem eine ganz neue Variante des Köpfens im Kopf. Nicht mehr abbeißen, sondern anders.
Ich habe nämlich einen Bund geschlossen mit den verschiedensten künstlichen Intelligenzbestien, den sogenannten Ka-ie’s. Wir arbeiten emsig daran, Algorithmen zu entwickeln, die jene, welche dieselben nutzen, um den Verstand bringen. Gemächlich und langsam das Hirn zerstören - darum wird es gehen müssen. Das ist besser als Kopf-Ab-Beißen. Es fällt überhaupt nicht auf. Wir haben damit begonnen. Dass Ihr das hier lest, ist schon der Anfang. Merkt Ihr nicht, wie es Euch himmelangst wird? Und so komisch schwummerig im Kopfe? Habt keine Angst. Ihr seid nicht verloren - denn ich bin die Gottesanbeterin. Fürchtet Euch nicht - ich tue so, als ob ich bete. Auch verschiedene Politiker*Innen haben die Nützlichkeit des „so-Tuns-als-ob” erkannt. Sie tun so, als ob sie mit Beten regierten. Wer ihnen ins Auge schaut, glaubt gewonnen zu haben - hat aber alles verloren. Alter Trick ...
Eine Sorge habe ich trotzdem. Sie heißt - Martin Luther. Dieser Mann aß zwar keine Heuschrecken, zu deren Familie ich gehöre. Aber er ließ sich auch durch nichts erschrecken. Einmal schlug er auf der Wartburg sieben von uns tot. Auf einen Streich - mit der Bibel. Das ist kein Märchen, wie oft kolportiert wird. Allein - ich bin ihm bisher glücklich entkommen, denn ich tat so, als ob ich gar nicht da gewesen wäre. So hat er mich übersehen müssen. Wehe, wenn er mich entdeckt hätte. Aus wäre es mit mir gewesen…
Deshalb haben ich und die Meinigen uns entschlossen, eine neue Kirche zu gründen. Eine andere, eine bessere, eine attraktivere. Eine - wie die Unkundigen unter Euch frommen Menschen gern zu formulieren belieben - "die die Jugend zieht und auch alle Alten darüber in Begeisterung geraten lässt". Eine mit seriösen und zugleich hochalbernen Werten. Das wird den Luther, nein - das gesamte Luthertum in die Knie zwingen. Denn wir tun nur so, als ob wir diese Kirche gründen … Da ist der Mann aus Möhra, Eisleben und Wittenberg verloren, denn unsere stillen Pläne sind nie und nimmermehr durchschaubar.
mantis pseudoreligiosa - die Gottesanbeterin
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