LUTHER HAT HEUTE 540. GEBURTSTAG
GEBURTSTAGSGABE (2)
Kaum war die Rede verklungen, welche der Pinguin vorgetragen hatte, schleppte sich die Schildkröte herbei. Langsam kriecht sie, uralt ist die Arme, aus schuppigem Panzer pendelt ein Hals, faltig und unansehnlich. Der Hals verdickt sich zum Haupt, wie Ihr seht. Doch beide Augen sind klar wie ein Spiegel. Die Alte hebt an und berichtet:
"Ich gehöre keiner christlichen Kirche an. Ich bin Buddhistin. Auf meinem Rücken ruhen die Alter vergangener Ewigkeiten. Mein Name lautet Testimonia. Sprecht das nicht zu laut aus, wer weiß, was sonst geschieht. Ich kroch hierher, um dem Befehl meines Königs zu gehorchen. Auch ich habe einen Brief geschrieben. An den Menschen Martin Luther. Ich habe ihm einiges vorzuwerfen, anderes rechne ich ihm hoch an. Von beidem soll die Rede sein.
Zuerst das Schlimme. Martin Luther hat am 22. Februar 1534 bei dem Festmahl an- lässlich der Herausgabe der Deutschen Bibel während des von der Wittenberger Ratsherrschaft ausgerichteten Banketts drei Teller Schildkrötensuppe gegessen. Man muss wissen, dass wir Schildkröten die Fähigkeit haben, alle unsere schon verstorbenen als auch noch ungeborenen Stammesgenossinnen und Genossen mental zu kontaktieren. Wie das funktioniert, darf ich nicht bekannt machen. Es wäre auch deshalb falsch, weil Ihr mir sowieso nicht glauben werdet. Es reicht, wenn wir Schildkröten wissen, dass das wahr ist, was ich erzähle. Luther hat noch einen vierten Teller haben wollen, aber man wies ihn am Suppenbottich zurück, denn es war nur wenig dieser Spezerei vorhanden, und andere hatten noch gar nichts davon genossen - zum Beispiel Philipp Melanchthon und auch nicht der Drucker Hans Lufft. Die beiden haben dann aber bemerkt, dass dem Luther die Suppe derartig gut schmeckte, dass sie ihm ihre Teller gern abtraten. Aus reiner Gnade. Worauf Luther die Schüsseln leerte, also dass er nicht drei, wie ich vorhin sagte, sondern in Wirklichkeit fünf verzehrt hat. Welche Maßlosigkeit! Dann hat er ein ganzes Jahr lang versucht, Schildkröten aufzutreiben. Er hat auch seine Frau Käthe angestachelt, sie solle doch bei Friedrich dem Weisen irgendwelche Anträge stellen usw. usw. Ihr müsst wissen, Schildkröten waren damals in Europa zwar vorhanden, aber unbekannt und deshalb absolute Raritäten. Wie diese Suppe in Wittenberg auf den Tisch gekommen ist, weiß bis heute niemand so richtig genau. Nur ich natürlich und die anderen Schildkröten dieser Welt.
Und das war so. Von fernem afrikanischen Kontinent her hatte der göttliche Zufall einen Mann dunkler Hautfarbe nach Wittenberg verschlagen helfen. Dieser Herr nun war bei dem Kurfürsten als Kammerdiener angestellt gewesen. Aus der alten Heimat führte er eine Schildkröte mit umher und hielt sie in hohen Ehren, erstens um das Heimweh nach dem Palmenland auf diese Weise wirksam vertreiben zu können, zweitens aus noch anderen Gründen, die hier keine Rolle mehr spielen. Nun starb der arme Mensch, sei es aus Altersschwäche oder eines anderen Grundes wegen. Niemand wollte sich nun seiner Schildkröte weiter annehmen. So erbarmte sich schließlich der Koch des Kurfürsten. Er brachte das Tier zu der anberaumten Bibelfeier auf das Rathaus. Dort warf man unsere Schwester mit großem Hallo in den brodelnden Topf und bereitete sie zu wie eine Kalbshaxe. Luther, der gern aß, schlürfte die Suppe mit Genuss. Naiv wie er ja auch war, dachte er, es sei ein Leichtes, an andere Schildkröten zu kommen. Aber daraus wurde nichts.
So verlegte sich Luther darauf, und nun kommt die gute Nachricht, ein wenig mehr über uns Heilige Tiere (alle Tiere sind heilig!) in Erfahrung zu bringen. Weil nämlich seine Bibel nunmehr übersetzt und gedruckt war, legte er eine Schaffens-Pause ein - sozusagen ein Sabbatical. Er ließ alle Studierenden nach solchen Informationen auf die Pirsch gehen, welche man schildkrötenrelevant nennen könnte. Dabei kam heraus, dass Schildkröten nicht nur im fernen Afrika vorkommen, sondern überall auf der ganzen Welt. Große und kleine gibt es. Und zwar überall.
Als der Luther das erfuhr, geriet er außer Rand und Band. Und wollte, dass Friedrich der Weise sofort Expeditionen ausrüstete, um uns Tiere zu fangen, in Käfige zu sperren, zu züchten und dem Volk Kenntnisse darüber zu vermitteln, wie sich jeder und jede seine bzw. ihre eigene Schildkrötenfarm einrichten könne. Und das ist der Kern der guten Nachricht - daraus ist nichts geworden. Der Kurfürst hat nämlich den Luther sehr leicht durchschaut. Er hat gemerkt, dass der fromme Mann gar nicht so fromm war, sondern nur seine eigene kulinarische Vorliebe bedient haben wollte, und dabei der Versuchung erlegen war, private Fressereien mit vorgetäuschten sozialen Projekten zu bemänteln. Friedrich der Weise hieß aber nicht zu Unrecht Friedrich der Weise, er war es auch. Deshalb blieb es bei den fünf Tellern. Noch auf dem Sterbebett hat Luther gestöhnt, es wäre doch schön, jetzt noch einen Teller warme Schild krötensuppe zu genießen.
Aber das ist natürlich nicht überliefert worden von seinen feinen Sterbebegleitern. Nur die Gebete und frommen Sprüche. So sind die Menschen. Ich als Buddhistin frage mich, warum sie das verschweigen? Ist es womöglich dann doch wahr, dass das Christentum jene leibfeindliche Religion ist, oder zumindest wenigstens war, wie viele historische Untersuchungen so überaus schadenfroh behaupten? Nun, ich persönlich habe ihm verziehen. Wegen der Predigt über die Schildkröte aber nicht! Die kennen die meisten gar nicht. Ihr findet diesen Sermon im Walch Band 23. In den neueren Werkausgaben ist die Schildkrötenpredigt getilgt worden - man hält sie für unecht. Wir aber halten sie für echt und bezeichnend für die Denkungsart des Mannes, den Ihr ehrt. Hier nur der Spitzensatz daraus. Alles andere würde den Rahmen meines kurzen Denkschreibens und diese hohe königliche Versammlung sprengen:
„Ihr Leute groß und klein, glaubet nur, dass unser lieber HERRE sich nicht verstellet und seine ganze Liebe uns immerdar schenken will, so wie sie ist. In seinem Wort und Sakrament gibt er sich uns ganz dar und verbirgt sich, für die, die ihm glauben, nicht. Weder unter harten Rätseln noch undurchdringlichen Panzern. Wie in einer Schild- kröten das leckere Fleisch darinnen wartet, dass ein guter Koch es unter dem Panzer herausreißt und schmackhaft zubereitet, so ist auch das Mysterium Gottes verborgen unter einem verkalkten Schild an Tradition und papistischer Sitte. Aber mit dem scharfen Messer der frommen Erkenntnis trennen wir das Lebendige tapfer heraus und kochen es mit feinen Kräutlein gar, als so lange, bis es schmecken will und uns atzet für alle Ewigkeit.'
Ja, das ist O-Ton Luther. Wir Schildkröten fressen übrigens Salat."
Testimonia - Schildkröte
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