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bei Apollon im Heiligtum
Leberecht Gottlieb (100)

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100. Kapitel, das uns in das Schlusskapitel des Theaterlibrettos führt und uns davon unterrichtet, wie der emeritierte Landgeistliche aus Sachsen Pfarrer i.R. Leberecht Gottlieb trotz seines Greisenalters ein findiger Mann zu sein scheint und das Böse nicht gewinnen kann ...

Leberecht ist ein kluger Mann. Er hatte, als er zu ahnen begann, wie das Licht seines Telefons bald erlöschen und er nicht mehr würde  weiterlesen können, von den verbleibenden Seiten des Librettos ein paar Aufnahmen gemacht. Als das Licht dann verloschen war, kroch er zurück auf seinen Schlafplatz, stöpselte den Akku an das Satellitentelefon des Seidenhändlers und nach ein paar Minuten ging es weiter mit der unglaublichen Lektüre. Hier liest der getreue Leser bis zum Ende des geplanten Theaterstückleins: 

Szene 5 - im Heiligtum Apolls

Mealethaios:
Nun diene ich gemessnen Schrittes
an Tisch, Altar und Schrein des Musenführers,
der seinen Bogen spannt
und Weisung beim Orakal schenkt.
Rat suchen Menschen allenthalben.
Und geben Geld für einen weisen Spruch.
Ich mäste mich von solchen Opfergaben.
Doch frage ich mich täglich auch,
ist es nun das, was ich für mich so heiß begehrte?

Ich gebe selber Antwort mir:
„Nein - war und ist es nicht!” Was aber dann?
Ich weiß es nimmer.
Das aber weiß ich wohl: Am schlimmsten ist die Pythia!
Das wirre Weib mit ungewaschnem Zottelhaar
und einer Stimme, welche kreischt,
hängt Tag und Nacht
dort hinten überm Felsenspalt
auf ihrem Stuhle mit drei Beinen.
Isst nicht - doch trinkt sehr viel,
vor allem sauren Wein.
Hört, eben speit sie alles wieder aus -
hinunter in die ururalte Kluft.
Schon ihre Vorvorgängerinnen,
sie alle pflegten so zu tun,
und deren Vorvorgänger auch
und alle überhaupt!

Im Lauf der Jahre muss die Pest
sich eingenistet haben in der Kluft.
Ich nun, Mealethaios,
muss das Gegrunze und Gebrüll der alten Vettel deuten.
Auf kleine Täfelchen aus weichem Ton
ritz ich zweideutig Sprüchlein ein.

Da kommt zum Beispiel einer her und fragt:
„Was soll ich tun! Mein Weib liebt mich nicht mehr
und weigert sich bei mir zu liegen!“
Ich gebe zu, für Männer ist das ein Problem,
was nicht geringe Sorgen macht.
Nun denn, – ich lasse den
im Dormitorium zur Nacht sich betten, –
nicht ohne vorher Fasten anzuordnen
mit Kräutertrunk, der sehr abscheulich mundet!
Am Morgen dann erzählt er seinen Traum,
den Traum hört Pythia, hör ich und hört er selber noch einmal,
indem er ihn sich selbst und uns berichtet.

Jetzt kommt die Stunde der Verrückten.
Sie fläzt sich auf den Stuhl,
speit in die Gruft und fällt sofort in Trance –
zumindest tut sie so als ob.
Dann schreit sie unvermittelt plötzlich auf
und windet sich in krampfender Verzückung.
Rülpst, furzt und fuchtelt, sich wie toll gebärdend.

Ich selber muss dann bei ihr stehen
und eile fort von meinem Schreibpult hin zu ihr,
dort in der Faselgrotte.
Ich schaue achtsam um mich her auf diesem Weg –
dass ich nicht stürze in dem Höhlenheiligtum,
denn Trümmer liegen ohne Zahl, verstreut aus alten Zeiten –
da seh’ ich einen Vogel etwa sitzen
am Kapitell der abgebrochnen Säule,
schau Affen, die sich grad begatten,
erblicke eine Schlange, die den Rachen öffnet,
hör auf den Wind, der sich in Opfernischen rumtreibt, –
oder auch sehe gar nichts,
weil´s nichts zu sehen gibt
und nichts geschieht an diesem Tag
vor lauter Zufall!

Und meistens kommt mir irgendetwas in den Sinn.
Das stemple ich in kühlen, feuchten Lehm.
Und schon zu Mittag ist das Täfelchen erhärtet
das macht die große Sonnenkraft
hier draußen in der Wüste.
Das hartgebrannte Ding dann gebe ich
als Talisman heraus dem, der den Rat erbat.
Und lass ihn zieh´n – mit großem Rätselspruch
in einer Sprache, die gar keine ist,
sondern nur Aneinanderreihung wohlklingender Laute.

„Subaru tecum oliaster Pradapam!“
Fragt nicht, was das bedeutet, denn ich weiß
es selber nicht und’s bleibt Geheimnis so, –
das will ich meinen!
Tag ein Tag aus gehts so –
und alles wiederholt sich oft.
Es sind ja meistens immer auch dieselben Fragen.
Geld und Familie,
Macht, Äcker und Besitz
der Krieg mit Nachbarn und mit andern Völkern.
Kindlosigkeit, oder zuviele Bälger, die man nähren muss,
die Krankheit, schlimme Träume.
Das ganze Zeug, das uns in Atem hält.
Denn alle diese Fragen hab ich selber auch …

Nephele, die Wolke ist
inzwischen herabgeschwebt
und in ihr verbirgt sich Apollodor.

Mealethaios:
Ja, früher! Da war ich auch einer derer,
die oft und gerne zum Orakel eilten.
Im Monat mindestens einmal
kam hierher ich und zahlte für ein Täfelchen
mit eingedrücktem Runenrat.
Apollodor, den man zu Tode brachte
(zu recht! das sag ich Euch!)
er führte mich vor Pythia.
Unsummen Geldes ließ ich dort.

Nun bin ich selber einer von den Gauklern worden.
Und hätte nicht gedacht,
dass das zu werden leicht ist,
zu bleiben aber schwer.
Ich nähre mich von Opfergeld und stifte Unsinn –
sag aber allen, das sei Sinn.
Und es wird Sinn! Zumindest bleibt´s nicht sinnlos ganz …
Was fang ich an …

Nephele, die Wolke ist hinter dem lamentierenden Mealetaos gelandet, ihr entsteigt Apollodor. Er legt das griechische Gewand ab und kleidet sich in den bürgerlichen Anzug eines Gelehrten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mealethaios bemerkt es nicht und fährt in seinem Monolog eifrig fort.

Mealethaios:
Nun das! Im Kasten, wo die Räucherkerzen lagern,
fand ich Aufzeichnungen aus alter Zeit.
Mein Vorgänger, der an dem Felsen Abgetane,
hat sie da wohl versteckt, gesammelt oder selbst verfasst.
Es sind zahlreiche Rollen von Papyrus.
Nun, da er jetzt ins Reich der Schatten abgestiegen ist
und unter Schatten wandelt,
bring ich die Sachen groß heraus.
Ein Buch entstehe – und Unsterblichkeit werd mir zuteil,
Ruhm noch zu Lebzeit, Geld,
ein Haus am See, bequeme Kutschen
und von den schönsten Frauen nur die allerschönsten.
Dann Diener noch und Fächlerinnen.

Als ich die Sachen aus der Räucherkiste griff,
mir hernahm und betrachtete,
sofort den Vorsatz hegend, dieses
als meine eigenen Gedanken zu veröffentlichen,
hat es vom Himmel her gedonnert –
zustimmend, will ich meinen!
Denn immer dann, wenn es gedonnert hat,
stimmt einer von den selig Schreitenden uns zu –
manchmal sogar auch mehrere und alle.
So achtet einmal drauf, ihr Menschlein!
Wenns donnert, dann stimmt einer zu.

(Mealethaios macht eine unwillkürliche Bewegung und wirft dabei ein Fläschchen zu Boden, – es gibt ein Geräusch)

Mealetaios
Seht ihr, ich sag es doch!

Apollodor (ruft unwillkürlich):
Die Myrrhetinktur. Welch Vergeudiung!

Mealethaios (fährt herum):
Bei allen Göttern, hast du mich erschreckt!
Wer bist du und was willst du hier,
o fremder Mensch?
Rat suchst du sicherlich
in einer Lebensfrage, welche wichtig ist.
Hier ist das Heiligtum des delphischen Apoll,
des Priester bin ich
und geb Kunde dir,
wenn du bezahlst.

Apollodor:
Mealethaios, höre mich,
Mensch war ich, bin´s nicht mehr,
ward Halbgott nun -
mich schickt der Kreis erlauchter Götter
zu dir hin auf die harte Erde,
die trotzdem Blumen trägt
und wilde Rosse nährt.

Mealethaios:
… beim Zeus.
Was ist der Zweck der Sendung,
welche du mir kündest?

Apollodor:
Die Himmlischen erfordern dieses Kästchen sich
mit allen Schriften, die du nahmst,
denn ihrer ist das Eigentum -
nicht dein ist, was du raubtest denen,
die dich als Priester dulden noch.
Ich komme aus der Zukunft der Planeten
und soll die Blätter alle zum Olymposberg entführen.
Gib sie heraus, mir und sofort.

Mealethaios:
Ich geb sie niemals her.
Wohlstand und Ruhm, das sollen sie mir bringen.
Abschreiben wird man sie,
in allen Stuben ganz Athens.

Apollodor:
Nun, meinetwegen soll’s so sein.
Jedoch sind vorher noch Ergänzungen zu machen -
es haben ja die Seligen absichtlich eingefügt
falsche Berechnungsformeln unsrer Zukunftsknoten
die müssten ausgetilgt noch werden,
sonst lacht man dich als den Verfasser aus.
Und wird vielleicht entlassen den,
der diese Binde trägt …

Mealethaios:
Du weißt also, dass ich gar nicht der Autor bin?

Apollodor:
Wer ist schon Autor -
was bezeichnen wir
als unser geistig Eigentum?
Stammt alles letztlich ab nicht von den Himmlischen?
Die senden mich zu dir,
um nun am Ende aller Zeit
die Weisheit aller Welt
auch öffentlich zu künden.
Doch soll´s nicht Lüge ohne Unsinn sein -
nur Wahrheit, Schönheit, Sinn.
Drum lege jetzt die Blätter nur getrost in meine Hand.
Dann werden sie gleich korrigiert
nach Raum und Zeit, Mysterium, Sinn, Ziel und Grund.

Danach geb ich sie Dir zurück.
Dann mögen alle Schreiber deiner Stadt
ans Werk sich machen - und du wirst berühmt.

Mealethaios:
Das klingt verheißungsvoll.
Wenn aber es Betrug nur ist
und du mich täuschst,
wie einst der Fuchs die Krähe in der Fabel
vom Käse, die der alte Äsop aufgeschrieben hat?

Apollodor:
Kleingläubig sei nicht, sondern glaube.
Leg in die Hand, die ich dir nun entgegenstrecke
den Konvolut. Und warte staunend,
sieh, wie diese Schrift vor deinen Augen sich verwandelt
danach magst du dann schalten
und walten wie du willst und planst.

Mealethaios (beiseite):
Wenn Fehler nachgewiesen würden …
Das wäre schlimm.
Doch wenn der Fremde mich betröge?
Noch schlimmer wäre das.
Ich will ihn fragen, wer er sei. -
Wer bist du denn du fremder Fremder,
der du so ernst dreinschaust,
als ob du wärest Ernst an sich?

Apollodor:
Du sprichst so wahr und auch als Weiser,
als edler Priester des Apoll,
der die Orakel lässt erschallen.
Die, die mir Glauben schenken, sagen Ernst.
Du sagtest ebenfalls grad Ernst zu mir.
Das ist das Zeichen deines Wissens.

Mealethaios:
Wo wohnst du denn?
Wo steht dein Haus;
und ist dein Lager in der Nacht?
Wer war Erzeuger dir,
an welchem Ort bist du geboren?

Apollodor:
Von meinem Vater sage ich Dir nun,
dass selber er ein Gott gewesen auch.
Trau mir, - die Mutter aber war ein Menschenkind.
Den Platz, an dem die Wiege stand,
kennt man als aller Welten Nabel
Es ist der Ort - an sich.
So sollst du mich auch bei meinem Namen nennen:
Ernst Ort, wenn es beliebt.
Ernst Ortlieb klingt der ganze Name.
Der Leib des Menschen ist ein Ort,
in dem er haust, die Zeit lang, die er lebt.
Ernst ist der Name dieses großen Themas.

Gib mir die Schrift herüber nun
hier auf die Wolke, lege sie,
mit der ich hergereist zu dir.
Dann werd ich nach erfolgter Korrektur
gleich alles wieder geben dir in deine Hand ,
so dass du alles wirklich recht
und ohne Fehler weitergeben kannst.
So zaudre nicht. Vertrau dem Gott.
Nimm´s ernst. Hier an dem Ort,
wenn dir dein Leben lieb ist.

Mealethaios:
Willst du mir drohen gar,
du sonderbarer Gott des Ernstes?
Wie willst du heißen? Wohl Ernst Ortlieb gar?
Denn nie gehört war dieser Name je in unsrer Stadt.
Gib erst Beweis von deiner Kraft und Macht,
so dass ich glauben kann!

Apollodor:
So lass von den Amphoren hier mit Wein gefüllt
uns einen Becher draus genießen ganz, -
und wen von beiden Gott Dionysos zuerst
zu Boden streckt, der walte über den Besiegten dann.
Er schmeckt zwar sauer, dieser Wein -
wird aber wohl das Gottesurteil gut bekräftigen.

Mealethaios:
Woher weißt du denn, was in den Amphoren ist?
Es ist der Wein von Pythia
und schmeckt so scheußlich,
wie sie häßlich ausschaut.
Das wilde Weib muss jedes Mal
sich übergeben gleich,
nur wenn sie davon nippt!
Ich hege Abscheu gegen dies Getränk.

Apollodor:
Ich weiß das, denn ich bin ein Gott.
Wenn du dich ekelst.
dann hol andre Rauschgetränke her.
Ich werde hier auf dich
bei deinen Schriften warten,
bis du mit Besserem zurück gekehrt.

Mealethaios:
Das könnte dir so passen,
damit du mit den Schriften fliehst
und gleich verschwindest,
wenn ich um die Ecke bin?

Apollodor:
Was bist du nur für ein Patron.
Misstrauisch bis zur Unterhose.
So nehm´ ich mir die Schriften jetzo selbst
und schlage dir aufs Ohr!

(schlägt ihn mit einer Kaspertratsche,
die er aus der Wolke langt
und reißt das Konvolut an sich)

Mealethaios:
Ai, ai, ai - du Bösewicht.
Kein Gott bist du,
denn ich erkenne dich doch jetzt.
Du bist Apollodor.
Her mit der Heilgen Schrift Papier!
(entreißt ihm die Beute wieder).

Apollodor:
Du sollst nicht fremde Aufzeichnung begehren.
Und ich bin doch ein Gott, wie du nun siehst.

Mealethaios:
Das kann nicht sein.
Die Götter sind so fern
und nicht auf Erden.

Apollodor:
Hier schlag ich zu,
damit du spürst:
Wir sind doch da.

(schlägt ihn wieder mit der Tratsche)

Mealethaios:
Wer du auch seist,
verruchter Ernst
von irgendeinem fernen Ort.
Nimm das.

(Er schlägt Apollodor den Dreifuß der Pythia an den Schädel, so dass der die Schriften fallen lässt. Mealethaios reißt sie an sich, wird aber im nächsten Moment von einem großen Krokodil verschlungen, das plötzlich auf der Bühne erschienen ist - niemand weiß woher.)

Apollodor:
Was war jetzt aber das?
Ein sonderbarer Drachen
besiegt das Böse auf der Szene.
Diabolos ex machina?

Die Stimme Apollons:
Kehr nun zurück, Apollodor.
Verwahr die Schriften dir am Busen
besteig die Wolke Nephele.
Verlass den Erdplaneten gleich
und strebe heim zum Himmel des Olymp.

Apollodor:
Ich schau mich um -
kann aber nichts entdecken.
Die Aufzeichnungen - sie sind fort.
Gern würde ich die Schriften zum Olympus tragen.
Das Krokodil jedoch hat sie verschlungen.
Zusammen mit dem Widersacher
sind auch die heilgen Zettel fort.
Was ich in 40 Jahren langer Priesterschaft
bei dem Orakel lehrte, ist verderbt.

Wie schade - jammerschade …
Das werde ich dem Herrn Apoll erklären,
erklären müssen, wenn ich kehr' zurück.
Dann muss ich ihm einmal nicht glauben.
Sondern - er mir.

Ochlos - die Menschenmenge:
Wir murmeln, was soll das werden,
was wird man gleich tun.
Wird man die Schriften finden,
im Wanste des Totenfressers?

Werden die Götter einschreiten und retten
die Schriften des großen Ernst?
Diese und andere Fragen
murmeln wir vor uns hin.

>>Ende<<

Der Morgen begann im Osten zu grauen, Eos die rosenfingrige Göttin des erwachenden Tages spannte das sanfte Licht über den Horizont aus und färbte einige Wölkchen goldgleißend. Leberecht ergötzte sich an diesem Anblick und beschloss dann, noch eine Mütze voll Schlaf zu nehmen, wie es bei Karl May so oft so schön heißt. Er schlief auch sofort ein. Und bald schon - im 101. Kapitel - wissen wir, was und wovon er geträumt haben wird ...

---
mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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