die Deutung des Dramas
Leberecht Gottlieb (101)
102. Kapitel, in welchem wir Leberecht Gottlieben erneut auf einer seiner umfangreichen Traumreisen begleiten dürfen und die ungefähre Deutung der Tragödie erahnen, die am Ende in eine Komödie umschlägt ...
Leberecht hatte sich nach Vollendung seiner Libretto-Lektüre niedergelassen - bzw. die letzten Seiten des Theaterstückleins bereits auf der Schlummermatte liegend gelesen. Am heutigen Abend sollte das Theaterfest mit der Aufführung also stattfinden. Und bereits morgen, am 8. Oktober wollte man dann die kleine Gemeinschaft dieser Wüstenkirche „Kinder des Herrschers der Sterne und Wesen” verlassen und mit dem Maybachautomobil nach Jerusalem abreisen. Alles war vorbereitet, der Chauffeur des chinesischen Seidenhändlers Wang Li Zhang hatte den Wagen bereits trefflich vorbereitet und dreht hier und da noch irgendwelche Schrauben locker und dann wieder fest. Da schläft Leberecht Gottlieb beruhigt ein - der Schlaf am Morgen zwischen vier und sieben Uhr ist bekanntlich der erquickendste. Im Entschwinden der Sinne und ihrer Ablösung von der gegenständlichen Welt gleitet die Handlung des eben gelesenen Textes noch einmal am geistigen Auge des Emeritus vorüber.
Da war also erstens dieser Theophilos von einer weiten Reise in seine Vaterstadt heimgekehrt. Der Name Theophilos bedeutet soviel wie „Gottesfreund.” Während der Abwesenheit über Jahre hatte die Stadt sich allerdings verändert - besonders auch ihre Bewohnerschaft. Dann war dann zweitens dieser unangenehm ehemalige Freund namens „Mealethaios”, dessen Name nichts anderes als „der Unwahrhaftige” bedeutet - und war zusätzlich auch noch drittens ein nicht weniger fraglich Philochlos genannter sogenannter „Volxfreund.” Diese beiden negativen Gestalten eilen zu einer Hinrichtung vor die Mauern der Stadt. Dort soll viertens der Priester des Gottes Apollon hingerichtet werden. Apollon als fünfte Gestalt ist bekanntlich der olympische Garant des Schönen und ihrer Künste. Was ist mit einer Stadt, die sich ihres Priesters entledigt, der für das Gute, Wahre und Schöne verantwortlich zeichnet? Wir wollen davon nicht reden … Traurig, traurig, traurig. Apolls Priesters Name lautet Apollodor. Das ist „das Geschenk Apolls.” Er soll wohl irgendwelche Neuerungen eingeführt und Zweifel an der Gottheit gelehrt haben? Heute würde man sagen, er sei ein Feind der Demokratie. Die Stalinleute in der ehemaligen Sowjetunion und die Mielkeschergen aus der vormaligen DDR hätten ihn als negatives Element, feindliche Kraft oder Volksverräter apostrophiert. Heute würde er von den regierungsfunkenden Qualitätsmedien Covidiot, Aluhutträger, Schwurbler und rechtsextremer Regierungsdeligitimierer genannt werden. So träumt Leberecht Gottlieb - und wir fragen uns natürlich, warum sich der Gott aller Träume Morpheus sich dieser Sprachregelung bedient, um im Hirn des greisen Landgeistlichen entsprechende Bilder entstehen zu lassen; wollen den Bruder des Thanatos aber auch nicht erzürnen und enthalten uns deshalb jeder Wertung. Ach ja - und dann gab es auch noch als Sechstes diese Volxmenge - den Ochlos - wie es im Griechischen verächtlich heißt. Die Masse Mensch spielt in dem Stücklein eine sehr bedeutsame Rolle. Die stellt nämlich den klassischen Chor dar, der zugleich Fragen stellt und nur Antworten glaubt, welche der "Volksfreund" und der "Unwahrhaftige" ihm einblasen. Apollon jedoch steht nun zu seinem Priester und lässt sich von der Klippe hinab mit ihm in den Abgrund stoßen - dabei steigen sie aber auf und getreu der alten Idee von der Apotheose wird Apollodor in eine Art Gottheit verwandelt. Klar - so muss es sein. Dieser Absprungsort trägt siebentens den Namen Lithostratos „Steinpflaster.” Und das ist eine textliche Anleihe beim Johannesevangelium, wo die Verurteilung Jesu auf einem Steinmosaikfußboden mit genau diesem Namen geschieht. Der Stein Lithostratos hat eine Stimme bekommen und kann reden. Er schämt sich zuerst, dem Apollodor und dem Gott Apoll Tod und Verderben bringen zu müssen - bzw. beteiligt zu sein an der Hinrichtung der beiden. Als er aber merkt, dass er nicht der Trittstein zum Verderben ist, sondern zur himmelfahrtlichen Vergöttlichung, preist er den Tag, an dem er aus flüssiger Lava entstand. Dann gibt es zum Achten noch die Wolke Nephele - sie darf den zum Gott werdenden Apollodor verbergen. Nephele ist ohne besondere Charakteristik gezeichnet. Wolken haben auch keine klar umrissene Form. Insofern ist das alles ok.
Das Libretto zeichnet mit dem klassischen Mittel der sogenannten Mauerdialoge die Eigenart anderer bekannter antiker Tragödien nach. Apollodor muss in Folge sehen, wie der Volkshaufe sich seiner Aufzeichnungen bemächtigen will, bzw. der unwahrhaftige Mealethaios sie als seine eigenen Schriften herausgeben lassen möchte, um berühmt zu werden. Das sind die etwas langweiligen Monolge, die sowohl Apoll, Apollodor und Mealethaios führen, indem sie mit sich selber zu sprechen scheinen. Leberecht erwacht kurz und denkt, "wie werden sie das wohl darstellen, damit es nicht diese Längen hat?" Und schon schläft er wieder ein ... Im Drama kommt es an letzterer Stelle zu singulären Himmelserscheinungen, welche von der Volxmenge richtig interpretiert werden - man flieht. Vom Unwahrhaftigen aber werden sie als zustimmende Zeichen des Himmels bewertet. Ganz falsch also! Apollodor bleibt nichts anderes übrig - er muss zurück auf die Erde, um der Menge seine wertvollen Schriften wieder zu entwenden. Erst scheint die List das auch gelingen zu lassen, so dass er das Seinige wieder zu bekommen scheint. Dabei aber erkennt der Lügner den Wahrhaftigen und nur noch das Eingreifen eines Gottes (gemäß dem ebenfalls allseits bekannten Schema DEUS EX MACHINA) bringt die Rettung. Es ist allerdings kein guter Gott, der erscheint, sondern die böse Allesfresserin Panphagiana - die Krokodilin. An dieser Stelle wandelt sich die Tragödie unvermittelt in eine Komödie um. Das Publikum wird klatschen müssen - und die Kinder können aufatmen. Alles wird gut. Wie sie das wohl machen, wenn das Krokodil - respektive die Krokodilin - den Mealethaios frisst?
Leberechts Traum wendet die Figuren hin und her. Er selbst ist einmal der Gott Apoll, dann wieder dessen Diener Apollodor. Er kämpft mit dem Mealethaios, der im Traume die Gestalt des ehemaligen Staatsbürgerkundelehrers Kurt Globnich annimmt. Auch zum Stein Lithostratos wird Leberecht - und er fragt sich als denkender Stein, wie oft er wohl selber für andere zum Ausgangspunkt für Verderben oder Erhöhung gewesen sein mag … Schließlich muss Leberecht am Ende seines Traumes in den scheußlichen Rachen der Krokodilin Panphagiana schauen und schaudert vor deren scheußlich nach Verwesung riechendem Atem - da wacht er auch schon auf und spürt den Geruch von Diesel - der Chauffeur Zang Li Wangs hatte kurz einmal den Maybach angelassen, um die Funktionen des Allradantriebs im lockeren Wüstensand zu testen. Das war der beißende Geruch, der Leberecht in die Nase gestiegen war und ihn erweckte. Leberecht hustet - erhebt sich und schreitet in das Zelt, woselbst der Chinese mit dem Frühstück bereits auf ihn wartet und Ibn Jesus mit wichtigen Botschaften bereit steht, von denen wir im nächsten Kapitel hören dürfen …
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