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Theater und Abschied
Leberecht Gottlieb (102)

102.Kapitel, das uns einen abschiedlichen Blick auf die Kirche in der Wüste werfen lässt und Leberecht sehr gerührt ist ...

Es war tatsächlich großartig gewesen! Nachdem ein paar Knaben mit ihren unvergleichlichen Stimmen die Fanfarenklänge der Bayreuther Festspiele nachgeahmt hatten, erschien die gesamte Gemeinde der "Kinder des Gebieters der Sterne und Wesen" auf dem Platze, um das Theaterstück, dessen Libretto der aufmerksame Leser bereits kennt, da wir ihn an der Geheimlektüre Leberecht Gottliebs teilhaben ließen, aufzuführen und als Zuschauer zugleich selber zu genießen. Das Besondere war nun, dass an diesem für die Sekte offenbar unwahrscheinlich wichtigen Tage alle nicht in der sie tagtäglich verhüllenden Kleidung erschienen - sondern bis auf wenige Fetzen, so der Ehrbarkeit halber nicht zu entbehren waren, öffentlich sich zeigten, stolz umher wandelten - und sich darüber freuten, zumindest sich aber nicht schämten. Leberecht Gottlieb, der Chinese Wang Li Zhang und dessen Chauffeur kamen sich deshalb reichlich overdressed vor und schwitzen in der Sonne, denn es war ein ausnehmend heißer Abend.

Das Amphitheater war bald vollständig besetzt und die Gäste aus Europa hatten einen Ehrenplatz erhalten. Der Chor bestand aus zumeist jungen Frauen, man konnte gar nicht oft genug die Blicke in ihre Richtung lenken - jedoch getraute sich auch nicht so recht, immer direkt hinzuschauen. Denn die Frauen der Jildim Hakochabim sind von solch ausnehmender Schönheit, wie sie auch das sechste Kapitel des Genesisbuches nur unzureichend beschreiben könnte, wenn solches gefordert werden würde. Ibn Jesus begrüßte seine festliche Gemeinde und aufmerksame Schar mit gewählten Worten in deutscher Zunge - und nutzte die sprachlichen Mittel Dativ-E und Akussativ-EN. Er sagte also nicht „Wir begrüßen den weitgereisten Pfarrerherren aus Sachsen Leberecht Gottlieb,” sondern: „Wir begrüßen Gottlieben.” Und sagte nicht: „Hier in diesem Zelt” sondern „in diesem Zelte.”

Richard Wagner war, als es Karl May auf seiner Reise im Jahre 1898 hierher in die ägyptische Wüstenei verschlagen hatte, zwar bereits sechs Jahre droben bei den Mannen in Wallhalla und Friedrich Nietzsche schickte sich eben erst gerade an, dem verhassten Tonsetzer im der Reise folgenden Jahre auf diesem Wege endlich zu folgen, aber das machte offenbar gar nichts. Man pflegte allhier den antiquierten Sprachduktus der beiden besonderen Herren, was immer den Eindruck von Feierlichkeit und Erhabenheit macht, wenn man bereit ist, sich dem hinzugeben. Wohl deshalb auch sagte Ibn Jesus nicht: „Hört und seht nun, wie in jedem Jahr das Theaterstück, das außer uns keiner kennt, weil Dr. Karl May es für uns unter dem Siegel strenger Geheimhaltung schrieb und hat hinterlassen wollen,” sondern formulierte: „Höret und sehet!” Das klang natürlich ähnlich dem „Kommet, schmecket und sehet!” aus der protestantischen Abendmahlsliturgie - und überhaupt hatte das Ganze seine absolut sakral-liturgische Komponente. Gegen Abend - also im Westen - sank die Sonne in rötlichem Scheine auf den Sandhügeln danieder, ein Grammophon spielte krächzend immer wieder erneut dazu angefacht jene Ouvertüre vom Rheingold mit dem tiefen Es und die Leiber der Chorsängerinnen schimmerten dazu unter den durchscheinenden Seidentüchern, die vom Abendwinde leicht bewegt wurden, dass es nur so eine Art hatte.

Ja - hier waren wohl die Musen alle neune tatsächlich einmal sogar vollzählig erschienen und walteten ihres verführenden Amtes. Schon bald gab es keine Trennung mehr zwischen Aufführung eines alten Textes einerseits und alltäglicher Realität andererseits. Nein, nein - zu ein und derselben Wirklichkeit war beides unablösbar miteinander verschmolzen worden. Auch zu diesem Behufe hatte man rund um das Lager Kohlenfeuerchen entzündet und auf die glimmenden Gluten exotische Hölzer und Harze von phönizischem Styrax, Olibanum aus dem Sudan, Benzoe aus Somalia, Mastix vom Heiligen Lande und Tolubalsam aus dem fernen Südameriko geworfen. Durch die entstandenen Duftschleier wandelten nun die Protagonisten Theophilos und seine Gegenspieler. Apollodor und den Gott Apoll stieß man von dem klagenden Felssturz Lithostratos klaftertief hinab in die Schlucht. Und - wenn auch der Sturz nur einen halben Meter tief erfolgte, so wurde durch den Knabenchor und die vibrierenden Stimmen der im Takt des menschlichen Herzschlages konvulsivisch zuckenden Frauenkörper ein endloser Sturz durch alle nur denkbaren Sphären vorstellbar, welcher sich dann aber durch raffiniert gesanglich intonierte musikalisch-harmonische Vorhalte und deren Auflösungen, in denen Leberecht Anleihen bei der chromatischen Harmonik des Tristanakkords wahrnehmen zu können glaubte, wandelte - so dass der Eindruck entstand, dass aus dem Fallen ein Steigen geworden sein müsse - und so verhielt es sich auch. 

Apollodor schaute heimlich aus der Wolke Nephele hervor, die von einer sehr, sehr üppigen Dame gegeben wurde, in deren Gewandfalten sich der eher magere Priester gut verbarg und ab und zu daraus hervor äugte. Dann aber auch endlich seine drohenden Worte in Richtung des verhasst gewordenen Erdplaneten schleuderte, worauf die Menge, der Ochlos, die Masse Mensch entfloh. Apollodors Zornspruch vom Himmel untermalten dabei einige laute Explosionen, die mit Hilfe des hier noch für die üblichen Vorderladerflinten in gutem Gebrauch stehenden Schwarzpulvers wirksam hervorgerufen wurden.

Schließlich kam auch die Krokodilin Panphagiana aus dem Sande gekrochen - und an deren Kostüm hatte man lange gearbeitet. Die Leute vom Karneval zu Köln und Mainz hätten ihren Spaß daran gehabt. Ein elend langer und schwarzgrüner Lindwurm war es mit Moos auf dem gezackten Buckel, hässlichst anzuschauen mit schadhaften doch durchaus noch sehr spitzen Zähnen, einer gebogenen Nase, aus dessen Nüstern gelblichbrauner Dampf aufstieg samt Warze und geschwollenen Lippen. Dieses Monster - was sage ich - dieses Ungetüm warf sich über den verruchten Betrüger Mealethaios und damit war das Stücklein auch schon zu Ende - es hatte etwa bei zwanzig Minuten gedauert. Und weil das recht kurz ist im Vergleich zu den Erzählungen von Karl May und den Darbietungen in Bayreuth, wurde es einfach noch einmal gegeben. Und danach noch einmal - und noch einmal. Allerdings wechselten nun die Hauptdarsteller untereinander ihre Rollen und es zeigte sich bald, dass jeder den Text des anderen beherrschte und das Ganze von Aufführung zu Aufführung immer besser wurde. Nur der Chor aus den vielen schönen Frauen blieb gleich. Und das freute Leberecht. Denn er weidete seine alten Augen an der Erscheinung des Wahren und Guten und besonders des Schönen - ergötzte sich an den Gestalten der sich wiegenden jugendlichen Frauenkörper - und bedauerte seit Jahren zum ersten Male wirklich ganz bewusst, dass er selber nun zum tatsächlichen Greis geworden und der HERR womöglich schon darauf sann, wie man diesen der Rentenkasse langsam aber sicher zur Last fallenden alten weißen Mann als Kostgänger - vielleicht ganz ähnlich dem Apollodor - in die Himmlischen Hallen versammeln könne.

Nachdem der Applaus verhallt war und der Wohlgeruch aus den Räucherbecken sich verzogen hatte, kam die Wirklichkeit wieder zurück. Leberecht und Zang Li Wang wurden mit Hallo verabschiedet. Leberecht wollte etwas da lassen, irgendeine kleine Gabe - aber er hatte ja nichts mehr in seinem Besitz. Außer ein paar Verse in der Erinnerung, die er einmal für den Heiligen Paulus in einer glücklichen Stunde hingeworfen, als dieser seine Freunde in Milet zu verlassen hatte und auf das Schiff gestiegen war, um seine Missionsreise auf dem Weltmeer fortzusetzen. Leberecht schrieb aus dem Gedächtnis schnell diese Verse auf einen Zettel - aber wem geben? Wohin damit? Schon drückte man Leberechten hie und da die Hand und wünschte "Gute Reise!" Eines der beiden Schlangenweiber meinte es ganz besonders ehrlich mit unserem Helden. Diese Schönheit zog sich den alten Mann an ihren üppigen Busen und Leberecht fühlte, wie dort unter dem dünnen Seidenchiffon ein menschliches Herz bebte und schlug - so sehr drückte das Weib ihn an sich. Wer genau hinsah, konnte sogar die Träne im Auge der Wüstentochter bemerken. Und dann hauchte sie Nscho-tschi, der Schwester Winnetous ganz ähnlich deren letzte Worte „Ich liebe dich!” Leberechten ins Ohr. Leider aber nicht auf deutsch, sondern in einem Gemisch von arabisiertem Jiddisch mit französischem Akzent. Leberecht ahnte, was ihm da bekannt wurde, wagte bei der Beichte der Frau kaum zu atmen ... und wünschte, fünfzig Jahre jünger zu sein, konnte aber diesem Gedanken nicht weiter nachhängen, denn …

… schon klappten die Türen des Maybach mit metallischem Geräusch zu - und ab ging die Post. Ein paar der besten Kamelreiter der Jildim Hakochabin begleiteten das Automobil der Enteilenden, die den Bug ihres Fahrzeugs nach Norden gewandt hatten, um die Stadt Jerusalem zu bereisen. Hier nun nich zum Abschied sozusagen die wenigen Verse, die Leberecht Gottlieb dem Schlangenweib in die Hand gelegt, als diese ihn an ihre Brust gedrückt hatte …

„Noch einmal, Freunde, eh ich weiterreise,
reich ich von Bord des Schiffes euch die Hand.“
Wir küssten weinend ihm nach alter Weise

den Ring und segneten der Freundschaft Band.
Noch lange winkte Paulus, den wir ehrten,
vom Meer uns zu, bis dass sein Boot entschwand.

Er kam zu uns mit wenigen Gefährten,
wir lauschten gerne seinem klugen Wort.
Er zeigte uns den Weg aus dem Verkehrten

und stärkte unsern Glauben immerfort.
Jerusalem, den Tempel zu besuchen,
verließ Philippi er - und uns am Ort.

Zum Abschied brachten ihm die Frauen Kuchen,
wir Männer taten so, als ob nichts wär …
trotz Wehmut wollte niemand grimmig fluchen,

doch wahrlich, Abschied fiel noch nie so schwer ...
Er hatte uns gefangen - mit Gedanken,
und den wir alle liebten, das war er.

Nun aber muss es gelten, nicht zu wanken!
Wir in der Stadt, er draußen auf den Planken …

„Freut euch, freut euch. Und abermals. Ich sage,
trotz Schlägen, Folterei und Zwangsarbeit,
bedenklich kann zwar sein des Menschen Lage,

doch davon wissen Christen sich befreit.
HERR, weise mir den Weg, dass ich ihn gehe
und in der Wahrheit wandle stets bereit.

Erhalt mein Herz bei dir - was auch geschehe,
in Ehrfurcht deinem Namen zugetan.
Wenn ich es auch niemals so ganz verstehe:

Es warf nie fremde Macht mich aus der Bahn.
Denn höher reichte Gottes Trost und Frieden,
als die Vernunft sich selber trösten kann.

Bewahrt bleibt Herz und Sinn durch ihn hienieden,
durch Jesus Christus, Gottes einem Sohn.“
So predigte, der grad von uns geschieden

und auf den Wogen machte sich davon.
Und immer, wenn des Meeres Wellen führen
den Blick zu Horizont und Wolkenthron,

erinnern wir in dieser Art Berühren
den Mann, des Worte öffneten uns Türen.

--

alles andere von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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