das salomonische Urteil
Leberecht Gottlieb (103)
103. Kapitel, in dem wir Leberecht Gottlieb von Erinnerungen übermannt erleben und der Seidenhändler aus China eine Idee hat ...
Der Maybach schnurrte wie ein Kätzchen und seine Reifen malten sich allradig durch den feinen Sand der Wüste. Die Kamelreiter waren inzwischen zurückgeblieben, nachdem sie noch manche waghalsigen Phantasiefiguren auf ihren Tieren mit Lanzen und Tüchern wirbelnd zur Ehre der abgereisten Gäste vollführt hatten. Leberecht und der chinesische Seidenfabrikant Zhang Li Wang saßen ein wenig bedrückt in der wohltemperierten Fahrgastkabine - der Chauffeur, dessen Namen wir nicht kennen, saß am Steuer und hatte alle Hände voll zu tun, den aus dem Sand ragenden Trümmerteilen irgendwelcher irgendwann gewesener Kriege und zahlreichen in der Sonne gebleichten Tierskelettfragmenten auszuweichen und trotzdem einigermaßen rasche Geschwindigkeit beizubehalten.
Der chinesische Seidenfabrikant Zhang Li Wang begann nun wieder einmal vermittels seiner Formel „Würden Sie etwas dagegen einzuwenden haben, wenn ich es wagte, mich mit einer Frage an Sie zu wenden”, Leberecht Gottlieb in eine Konversation betreffs letzter und vorletzter - mit anderen Worten philosophisch/religiöser Themen - zu verwickeln. Leberecht aber sah bekümmert drein. Er würde das Schlangenweib, das ihn so herzlich an den Busen gezogen hatte nie wieder sehen - vielleicht später einmal im Himmel, wenn es den überhaupt gab. Er spürte noch den leichten Duft ihres Parfüms, das aus einer Mischung von Minze, Amber und Bienenwachs bestanden zu haben schien. Mit solchen Sachen kannte er sich aus. Deshalb kam die Antwort wohl etwas unwirsch heraus, als er dem Chinesen entgegnete: „Vielleicht später, Herr …” und dann suchte er verzweifelt nach dem vollständigen Namen des spendablen Reisegefährten. Gott sei Dank fiel ihm der im letzten Moment noch ein: „Wang Li Zhang.” Dieser neigte zustimmend das Haupt und verbesserte halblaut "Zhang Li Wang." Und holte erst nach einer weiteren Stunde Leberecht aus dem Schlaf, indem er seine Frage wiederholte. Als Leberecht nicht antwortete - er hatte von dem Weibe geträumt und in seinem Traume trug sie den Namen Sulamith - begann der Chinese seine eigene und sehr persönliche Theorie von der Seide und den Seidenraupenspinnerschmetterlingen darzulegen. Und - ob es nicht geboten wäre, in der schönen Stadt Dresden direkt neben der Frauenkirche eine hübsche Boutique für Seidenkleider und Seidenanzüge zu eröffnen. Und ob Leberecht nicht irgendeine Idee in dieser Hinsicht hätte?
Leberecht kannte außer seinem feinen Seidenanzug, den der Chinese ihm damals auf dem Flughafen schenkte und welcher an Passabilität trotz Wüstenaufenthalt noch gar nicht viel eingebüßt hatte, nur die Seidenkleider auf jenem Riesenbild, welches in seiner ehemaligen Amtsstube der Pfarrei in Plötnitz gehangen hatte. Dieses Bild - im Stil der britischen Präraffaeliten gemalt - stellte das salomonische Urteil aus dem Alten Testament dar und zeigte, wie eben die beiden Dirnen zum weisen König Salomo betreffs eines gerechten Urteils flehten und dieses vom heiligen Geist gelenkt auch getroffen wurde - das falsche Weib überführt und die wahre Mutter vom Herrscher erhoben ward.
Dieses Bild nun war schon seit ewigen Zeiten im Flur des altern Pfarrhauses gehangen. Und Leberecht, der es entfernen wollte, als er dort einziehen musste, war von einer unerbittlichen Vorsitzenden des Gemeindekirchenrates hochnotpeinlichst mit folgenden Worten belehrt worden: „Das Bild bleibt. Es ist noch vom seligen Pfarrer Wilhelm!” Und dieser würdige Vorgänger im Amt Leberechts hatte es aus England mitgebracht und so war es in der kleinen Dorfkirchengemeinde zur Zeit des finsteren Arbeiter- und Bauerndiktats ein Beispiel dafür geworden, dass Recht Recht bleiben muss und auch werden kann, wenn der Richter sich und sein Schwert vom Geist Gottes lenken lässt. Leberecht hatte sich dieses grausigen Themas nur dadurch entziehen können, indem er eine Terzine auf das Thema dichtete. Der Wortlaut fiel ihm jetzt eben ein, als der Chinese mit seinem Seidenprojekt rüber kommen wollte. Und der alte Mann sagte die Verse ohne Schwierigkeit und Stocken auf. Sie gingen so:
In Seide vor dem König einst zwei Damen.
Die hatten miteinander ein Problem.
Was war der Grund, dass sie zum König kamen?Die eine sprach: „Es war vor ehedem,
dass beide wir im Haus ein Kind gebaren -
ich selbst - und diese andre unbequem.Als wir dann nun in unsern Betten waren,
genaht uns müde bald die Nacht mit Macht,
bedeckte uns mit ihren schweren Haaren -so dass wir erst nach Stunden aufgewacht.
Ich selber schlief noch fest in meinen Kissen,
die andre hat - wahrscheinlich - unbedachtihr Kind erdrückt im Schlaf ganz ohne Wissen.
Es lag wohl bleich und still und tot und kalt -
da hat sie meins vom Laken sich gerissen,und schob mir ihres unter mit Gewalt.
Vertauscht die Kinder frech und ohne Zagen.
Mir ließ sie nur die tote Ungestalt,doch raffte sich mein Kind aus Bett und Wagen -
verleugnet jetzt und will mich hier verklagen.”Die andre Dirne aber rief indessen:
„Nein, nein - es war gerade umgekehrt!
Die Vorsicht für ihr Kind ließ s i e vermissen,erstickt hat sie’s - mit ihrem Leib beschwert.
Mein ist das Lebende! Ihr ist das Tote”
So ward der Kölnig Salomo belehrt ...Dem Weisen nunmehr ein Dilemma drohte:
Wer redet Lügen - und wer redet wahr?
Da kam der Geist des HERRN zu ihm als Boteund schenkte ihm die Antwort rein und klar:
„Bringt her ein Schwert, mein Urteil euch belohne!”
Sie brachten eins. Und schärfer keines war.„Jetzt teilt das Kind und gebt - bei meiner Krone -
die eine Hälfte ihr, die andre der.”
Da schrie, die Mutter war, vor ihrem Sohne:„Nein, ich verzichte ganz, fällt es auch schwer!”
Die andre keifte: „Lasst gerecht uns teilen!”
Nun ward dem König klar, wer welche wär ...Zum Kinde seht die wahre Mutter eilen,
und glaubt, das Schwert des Geistes konnte heilen.
Zhang Li Wang nickte anerkennend mit dem Kopfe - und fügte zur Ergänzung der dantesken Nachahmungen Leberechts ein paar Haikus aus der eigenen Lameng hinzu. In Erinnerung blieb dem vom Seelenschmerz geschüttelten Emeritus nur Folgenes:Sachsens Kirche aus Steinen
Frauen in Seidenkleidern
sie sitzen singend ...
Leberecht lehnte sich zurück und meinte, die Sache mit dem Seidenladen sei eine gute Idee. Man könnte das tatsächlich ins Auge fassen. Und "die Kinder des Gebieters der Sterne und Wesen" zur Eröffnung einladen. Da gäbe es bestimmt irgendwelche Fördermittel. „Demokratie Leben - oder so.” Wenn es diese Projekte dann noch gäbe … Und die Sorge im Blick auf die Parlamentsbildung in seiner alten Heimat legte sich auf einmal mit enormem Druck auf seine Brust, an die vor knapp zwei Stunden das Herz im Busen jenes phantastischen Schlangenweibes gepocht hatte. Und er kannte deren Namen noch nicht einmal …
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