am Kloster
Leberecht Gottlieb (104)
104. Kapitel, das uns berichtet, wie ein unfreundlicher Hausmeister doch eine außerordentlich wichtige Person sein kann, von der viel abhängt.
Während der Fahrt hinaus Richtung Jerusalem blieb es still im Wagen. Der Seidenhändler Wang Li Zhang drang nicht weiter in den schweigenden Pastor Emeritus Gottlieb, der hin und wieder einnickte, dann wieder kurz erwachte und sich in düsteren Träumen betreffs seines fortgeschrittenen Alters zu befinden schien. Nun - auch Wang Li Zhang war nicht mehr der Jüngste, aber immerhin trennten ihn zwanzig Jahre von dem fünfundachtzigjährigen Leberecht. Der Seidenhändler malte sich vor seinem geistigen Auge aus, wie auch in der Heiligen Stadt bald jeder dunkelblauviolette Seide aus dem Land der Mitte würde kaufen können. Christen und Juden - auch Moslems meinetwegen, wie er gnädig konzidierte.
Leberecht dagegen versuchte einigermaßen verzweifelt, jene schöne Wüstentochter zu vergessen, welche ihn so herzlich dort draußen beim Amphitheater verabschiedet hatte. „Narr!” sagte er zu sich selbst und wiederholte es in Gedanken oft und immer wieder: „Sei doch kein Narr!” Ab und zu führte er dabei die Hand zur Nase, um noch etwas von dem freilich inzwischen immer schwächer werdenden Dufte des Parfüms zu erahnen - aber nach drei Stunden Fahrt war nun fast nichts mehr davon vorhanden. Ach - dichtete nicht Kurt Tucholsky seinerzeit etwas ganz Ähnliches? „Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider - Was war das? vielleicht dein Lebensglück... vorbei, verweht, nie wieder.” Und hatte sich dieser Kurt dann nicht sogar mit Schlaftabletten in die Welt des Geistes fortgestohlen … Kurt Tucholsky … Das war nicht der Kurt Globnich, der alte Staatsbürgerkundelehrer aus der SBZ … Zweimal Kurt. Und schon nickte Leberecht wieder ein.
Nach weiteren drei Stunden sah man aus dem Dunst des Morgens die Vorstädte der Heiligen Stadt auf sich zukommen, schon war man mitten drin in der Ödnis des Betons. Die weite Sandlandschaft der gelben Wüste hatte sich verwandelt in eine andere Ödnis, in die der Farbe Grau.
Den ganzen südlichen Teil des Heiligen Landes hatte Leberecht verschlafen und auch die Grenzkontrolle von Ägypten hinüber in die judäische Zivilisation bei Eilat. Der Chinese hatte für Leberecht alle Formalitäten erledigt, die Dollars bezahlt und seinem vornehmen Eingreifen war es auch zu danken gewesen, dass man den greisen Pastor beim Grenzübertritt nicht geweckt hatte. Wang Li Zhang gab zwar nur ungern darüber Auskunft, als Leberecht ihn in dieser Sache befragte, rückte dann aber doch mit der ganzen Wahrheit raus. Man hätte die Wachposten glauben machen können, sagte er, er - also Leberecht Gottlieb - sei ein Verehrer des chassidischen Judentums, welcher in der Heiligen Stadt zu sterben wünsche - und mit allen Kräften bereits schon dicht daran wäre, diesen Weg in die oberen Sephiroth sich aufzutun zu lassen, um in den Sphären der Erzengel zur Seelenwaage anzutreten. Da hätten die Wachposten ihre Blackrifles Marke AR15 wieder gesenkt und den Maybach nach einer kurzen Kontrolle des Kofferraums durchgewinkt.
Und da war sie tatsächlich nun auch ganz und gar vorhanden - Jerusalem, die Heilige Stadt des unfriedlichsten Friedens, den man sich auf dem Erdkreis vorstellen konnte. Man cruiste durch den jüdischen Teil der Stadt auf und ab, denn hier sollte sich in der Sakak Rimonot, der Granatapfelgasse, das Häuschen eines geheimen Kontaktmanns befinden, der über den Verbleib des Rambertiklosters Auskunft geben mochte. So hatte Wang Li Zhang mit einigen 100-Dollarbündeln in Erfahrung bringen können. Aber die angegebene Gasse existierte gar nicht - und man bog nach links ab in das armenische Viertel.
Der Weg, den das Navigationsgerät vorgeschlagen, führte in den Südosten dieses Teils der historischen Stadt - direkt zur Kirche der heiligen Erzengel, welche aus dem 12. Jahrhundert stammte und dem Armenisches Patriarchat von Jerusalem unterstand. Der Chauffeuer des Maybachs hatte als Ziel die Ziffernfolge 1+3+6+1+6+3+1+9+9+1 eingegeben, weil es der Chinese so befahl. Diese Folge hatte etwas mit dem Gerät und den angeschlossenen Satelliten gemacht - was, das weiß Gott allein. Man fuhr und kam an diesem Engelskloster der Armenier an. Leberecht staunte, als er das wohlgepflegte Fußballfeld direkt neben der Kirche wahrnahm. Das Fußballspiel war dem Landgeistlichen schon immer ein Rätsel und Mysterium gewesen. Das hing wohl mit der Anzahl der bei dieser Sportart waltenden Spieler zusammen - es sind nämlich genau 22, so wie auch die Buchstabenanzahl des Heiligen Alphabeths 22 beträgt. Mit dem Schiedsrichter sind es dann genau dreiundzwanzig und die 23 - das ist eine besondere Primzahl. Dieser eine Schiedsrichter ist der dreiundzwanzigste Buchstabe, den keiner kennt und der unsichtbar ist - aber jedes Wort, das aus den anderen zweiundzwanzig gebildet wird, verändern und sogar in sein Gegentum verwandelt kann, wenn man den dreiundzwanzigsten einfügt.
Man klopfte beim Armenischen Patriarchat an der Pforte - danach an irgendeiner Hintertür - nichts regte sich. Da trat man einfach ein. Ein Hausmeister erschien und sah wenig freundlich auf den Chinesen und den alten Pfarrer. Der setzte nun alles auf eine Karte. In seinem holprigen German-Schulenglisch fragte er nach dem Kloster der Rambertimönche. Und erntete das spöttische Lächeln des Hausmeisters, der ihnen im Tor gegenüber getreten war.
Der Hausmeister fing nun an zu schimpfen und zu lamentieren - er machte sich geradezu lustig über die Geschichte des Rambertiklosters. Immer wieder würden sonderbare Reisende nach diesem Kloster hier beim armenischen Patriarchat nachfragen. Es gäbe aber ein solches Kloster nicht - und hätte es auch nie gegeben. Das sei eine Erfindung irgendeines Abtes gewesen, der auf sein kleines Klösterchen aufmerksam machen wollte. Es seien in Folge dessen Schriften in Umlauf gebracht worden, die allesamt nur Fälschungen seien und wüste Spekulationen enthielten über Engel mit blauen Büchern, Turmalindiademen und Wahrsagebüchern. Das sei aber alles wirklich nur totaler Quatsch. Nichts davon sei wahr. Und er sähe - so der Hausmeister - das der alte Herr (und er deutete auf Leberecht) auch so einer von denen wäre - wie er sich ausdrückte. Das erkenne man sofort und sehr leicht an dem bunten Stab, den der Mann bei sich führe und sich auf ihn stütze. Alle kämen hierher mit solchen oder ähnlichen Stecken ...
An dieser Stelle wurde Leberecht hellhörig - und er merkte, dass er in diesem Hausflur genau richtig am Platze sei. Das ließ er sich aber nichts anmerken und übertrieb die Sache noch. Hielt den Stab wagerecht vor sich hin, machte ein ernstes Gesicht und brabbelte irgendwelche griechischen - und als die ihm ausgingen - lateinischen Verbstammformen in den Bart, welcher tatsächlich in den letzten Wochen gewachsen war und ein respektables Aussehen veranstaltete.
Nun wurde es dem Hausmeister zu viel und er rief: "Dann bring ich euch zum alten Pinchas, der wird sich freuen, wieder so einen Verrückten zu treffen." Das war nun wirklich nicht nett. Aber der Hausmeister führte den Chinesen und Leberecht durch ein paar muffig riechende Flure und Treppen auf und ab bis in einen Hinterhof mit Garten, allwo ein vergammeltes Gewächshaus stand, in diesem Gewächshaus eine Gestalt über ein Buch gebeugt saß. Und diese Gestalt gehörte einem Mann - das war Pinchas. Und der war irre - wie der Hausmeister behauptete. Aber wie sich herausstellen und der treuer Leser noch frühzeitig genug erfahren wird, war der Mann ganz und gar nicht irre. Sondern stellte so etwas wie den Schlüssel zu allen weiteren Berichten dar, welche wir hier getreu von Zeit zu Zeit preisgeben und damit zum Buche versammeln. Pinchas erhob sich, grüßte grimmig und sprach. "Danke für euer Kommen. Ich habe darauf schon lange gewartet."
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