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Schrödingers Katze (2/4)
Leberecht Gottlieb (45)

K.I. von BING - Auftrag: Schrödingers Katze vor der Straßenbahn
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  • K.I. von BING - Auftrag: Schrödingers Katze vor der Straßenbahn
  • hochgeladen von Matthias Schollmeyer

Da lag er nun in seinem Krankenhausbettchen - den Schädel mit Binden eingewickelt wie Lazarus im Grabe und sah zugleich aus wie einer der ägyptischen Pharaonen, wenn diese von irgendwelchen Forschern aus ihren Steinsärgen zur Untersuchung an das Tageslicht empor gewuchtet worden waren. Mumiengleich ausgestreckt sehen wir Leberecht Gottlieb in dem sonnendurchstrahlten Zimmer des Unfallhospitals. Und er selber musste sich natürlich an Kurt Globnich, seinen alten Staatsbürgerkundelehrer aus Mumplitz erinnern. Der war ja in einem Hospiz gestorben - zumindest hatte es Leberecht so beschrieben in jenem Roman, welcher freilich nie recht fertig geworden, sondern in der Schublade liegen geblieben war und jetzt in einer Daten-Cloud herumgeisterte.

„Schrödingers Katze” antwortete er, als die Superintendentin, die Leberecht als ehemaligen Verkündigungsmitarbeiter und Pfarrer i.R. im besagten Hospital befragte, was um Gottes Willen der Grund für seinen hiesigen Aufenthalt an diesem Orte wäre. „Schrödinger …” wiederholte die gute Frau. „Da wird die Familie Schrödinger hoffentlich eine gute Versicherung haben müssen?” meine sie professionell herzlich und zugleich völlig naiv. Leberecht sah es beides nach ... Wer hatte denn schon Ahnung von den Singularitäten und quantenmechanischen Überlagerungszuständen, die Erwin Schrödinger mit seinem grotesken Gedankenexperiment gemacht hatte, in welchem eben diese Katze die Hauptrolle spielt. Und zwar eine Katze, die zur gleichen Zeit tot !und! lebendig sein muss, weil sonst die Erschaffung des Lichtes am ersten Tag durch Gott gar nicht möglich gewesen wäre. „Zeigen Sie mal bitte, wie ich aussehe,” hatte Leberecht zu der schmucken Superintendentin gemeint und mit dem umwickelten Lazarzuskopf eine Bewegung zum Nachtischchen gemacht, wo ein Spiegel lag. Leberecht liebte Spiegel über alles. Er führte immer einen mit sich. Das hatte er damals 1986 von seinem Vikariatsvater Albrecht Molterich gelernt. „Bruder Gottlieb,” hatte dieser während einer seiner Unterweisungsstunden in dem altmärkischen Dorfamtszimmer räsoniert, „niemals ohne Ihren Spiegel!”
Die Superintendentin sah schmuck aus. Sie trug ein knieumspielendes Etuikleid aus dunkelblauer Naturseide und im Ausschnitt ein winziges feuervergoldetes Kruzifix an urdünner Kette um den wohlgeformten Hals. Eine ins grauweiß spielende Pagenfrisur umrahmte ihre mitleidenden Gesichtszüge und kleine Korallenperlen steckten in den durchbohrten Ohrläppchen. Schick aber nicht aufdringlich - wie es sich eben für kirchlich Mitarbeitende gehört. Die Superintendentin hatte kaum Zeit, aber die wenigen Minuten, die sie an Leberechts Bettstatt wachte, wurden durch den noch lange anhaltenden Duft ihres Parfüms bis in eine geführlte Ewigkeit hinaus gedehnt, als sie schon längst verschwunden war. Es lag immer noch etwas Frühlingshaftes in der Luft, obwohl wir doch jetzt bereits Mitte August schrieben. August 2024. Leberecht hatte also sein umwickeltes Ramsesgesicht betrachten dürfen. Er sah wirklich aus wie einer derjenigen, die in die Barke der Sonne gestiegen und hinunter nach Theben geglitten waren, wie Drewermann so schön beschreibt. Über die matt schimmernden Wellen des großen Vater Nil, auf dem schon Osiris und Toth und wie sie alle hießen - von Anubis bis Horus und Amun Re. Die Superintendentin hatte sich also erhoben - und sah in diesem Moment aus wie die umwerfende Katzengöttin Bastet. Sie straffte ihr dunkelblaues Seidenkleid. Hat auch etwas von Nuth - der Nachtgöttin - dachte Leberecht und murmelte ein „Gott befohlen.” So grüßte er beim Abschied jetzt immer. Irgendwann im Alter von 80 an hatte er sich diesen Gruß angewöhnt. Wer weiß denn, ob man sich wiedersehen wird, kann, muss oder will? Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Frau gar nicht gefragt hatte, wie es ihm gehe, sondern sie ließ einfach eine Karte von irgendwoher aus der Luft erscheinen: „Von guten Mächten wunderbar geborgen” und so weiter stand darauf gedruckt - und die Sonne ging gerade hinter dem Horizont irgendeines der Ozeane unter. Leberecht hatte gedankt und sich dann kurz zu erklären versucht. Ja - er wollte mit der Elektrischen zur Staatsbibliothek fahren um die beiden Schriften „Der Edelstein Lapis Aquamarinus Knossius” von Johann Nepomuk Dankreither und Giordano Brunos „Die Kabbala des Pegasus” studieren. Da wäre er schon vor 60 Jahren einmal dran gewesen - aber Schrödingers Katze hatte ihm nun einen Strich durch diese Sache gemacht. Die schicke Superintendentin zog die Augenbrauen hoch, faltete das hübsche Näschen in krause Falten und sagte nichts. Dachte sich wohl aber ihren Teil. Sie selber hatte vor zwanzig Jahren im Fach Praktische Theologie promoviert. Die Arbeit beschäftigte sich mit der Situation der Jugend in den Kirchen der Neuen Bundesländer und war als Buch bei dem VDNW-Verlag erschienen. Dieses Kürzel bedeutete „Vertraut den neuen Wegen” und der Verlag war nach der sogenannten Wende einige Jahre lang so eine Art Print of Demand für evangelikale Kirchenverbände und deren Günstlinge gewesen. Leberecht wollte eben gerade eine kurze Intervention zum Zusammenhang von Schrödingers Katzenexperiment mit den Kontingenzerfahrungen des Altagslebens zum Besten geben, als die Superintendentin rasch aufgestanden war, ihr Seidenkleid wieder geglättet, in einem ganz bestimmten unverbindlichem Ton dem „Bruder Gottlieb” baldige Besserung, Gottes Segen mit einem guten Tag gewünscht und sich dann unter Benutzung weiterer freundlicher und tröstender  Worte durch die Tür entfernt hatte.

Der so Besuchte legte den Spiegel wieder zurück auf den Nachttisch - nicht ohne vorher seinen Namen auf die Zimmerdecke geschrieben zu haben - mit gespiegeltem Sonnenlicht, denn dieses schien heute am 15.August 2024 kräftig in das Zimmer hinein, in welchem Leberecht Gottlieb noch einige Tage zu verweilen hätte. So jedenfalls wollte der Chefarzt ihm zu verstehen geben - in einem mit stark syrischem Akzent untermalten Englisch. Leberecht hatte verstanden.

Heute also war Mariae Himmelfahrt. Und dass die schöne Frau aus der Superintendentur der Stadt Dresden ihn besucht hatte - noch dazu mit Bonhoeffers Spruchkarte und einem Sommerblumensträußchen - das war ja fast schon die Recapitulatio Festis Mariae. „Das Christentum und seine Wahrheit sind eben wirklich unbesiegbar” dachte der an die Scheibe der Straßenbahn geprallt und verwundete Emeritus. Dann jedoch ging die Tür auf und ein Pfleger trat herein, um die Beutel, die an Leberechts Bett hingen zu wechseln. Denn Leberecht war katheterisiert worden. Die Wirklichkeit ist hart wie die Scheibe einer sächsischen Straßenbahn - trotz der Wahrheit des Christentums, oder gerade wegen derselben.

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mehr von Leberecht Gottlieb hier

K.I. von BING - Auftrag: Schrödingers Katze vor der Straßenbahn
K.I. von BING - Auftrag: Schrödingers Katze vor der Straßenbahn
Autor:

Matthias Schollmeyer

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