Schrödingers Katze (3/4)
Leberecht Gottlieb (46)
Es fiel Leberecht Gottlieb nicht leicht, im Dresdner Unfallkrankenhaus weitere Tage zubringen zu müssen. Er wollte schnell hinaus in die Bibliothek zu den Schriften des Johann Nepomuk Dankreither und Giordano Bruno.„Der Edelstein Lapis Aquamarinus Knossius” und „Die Kabbala des Pegasus”- darum musste es jetzt gehen.. Denn besonders in diesen beiden Literaturen vermutete Leberecht nötige Hinweise und Schlüssel, das Steuer doch noch einmal unvermittelt herum zu reißen und das drohende Desaster in allerletzter Sekunde abzuwenden. Wer sollte denn handeln - wenn nicht er, der Neunzigjährige! Nur noch knapp zwei Wochen bis zur sächsischen Landtagswahl - und kein akzeptables Ergebnis einer annehmbaren Koalition in Sicht? Da musste etwas verhindert und anderes ermöglicht werden.
Solange man jedoch mit diesem lästigen Katheter im Bett läge, war an einen Bibliotheksbesuch gar nicht zu denken. Vielleicht aber, dass man die beiden Schriften sogar irgendwo online lesen konnte? „Ach - wäre doch mein alter Freund Kahlil am Ort, der wüsste Rat und Hilfe” dachte Leberecht und wählte auf dem Smartphone die Nummer des getauften Syrers aus Tübingen. Am anderen Ende der Leitung meldete sich tatsächlich sofort und nur nach einem einzigen Tuten der getreue Jünger mit fröhlicher Stimme. Von den Freudentränen des in der Stadt Hölderlins Zurückgelassenen und viele andre Details, welche Leberecht während des zweistündigen Telefonats nebenbei noch erfuhr, soll an dieser Stelle nichts preisgegeben werden. Nur das Wesentliche also: Kahlil versprach Leberecht, wo es möglich sei, die beiden hermetischen Schriften dem ehemaligen Lehrer auf das Smartphone überspielen zu wollen. Da müsse er sich dann gar nicht mehr in die Bibliotheken bemühen, sondern könne alles auf das Allerfeinste vom Krankenbette aus erledigen. Leberecht dankt Kahlil - und tatsächlich hat er schon einige Stunden später die beiden Texte - zwar nur in winzigen Buchstaben, aber immerhin - auf dem Bildschirm seines iPhone 15 ProMax gefunden.
Leberecht scrollt die Seiten rauf und runter. Da war irgendwo diese eine Stelle, über die er als Zweiundzwanzigjähriger immer lachend und kopfschüttelnd hinweggelesen hatte, die er aber jetzt so dringend suchte. Wo nur war sie geblieben? Während Leberecht sich den Text durchforstet, erläutern wir uns kurz den Inhalt der beiden Schriften.
Johann Nepomuk Dankreither verfasste den „Edelstein Lapis Aquamarinus Knossius” im Jahre 1816 zu Wien als Ergebnis seiner langjährigen Beschäftigung mit der Geschichte der Alchemie und Homöopathie. Dankreither hatte Hahnemann persönlich gekannt und dessen Prinzip simila similibus curentur nicht nur auf Stoffe und die materia medica beziehen wollen, sondern auch auf Dinge und Ereignisse. Das bedeutet, dass genauso, wie die zur D30 potenzierte Pflanze Atropa Belladonna den Kopfschmerz vertreibt, welchen sie als Urtinktur eingenommen erzeugt, dass also dem ganz ähnlich eine bestimmte Art zu handeln genau das vertreibt, was die Ursache dieser Handlung darstellt. Dabei spielt der Konjunktiv des bei dem großen medizinischen Zauberer Samuel Hahnemann gebrauchten Verbums „curare” eine sehr wichtige Rolle. Es heißt eben nicht simila similibus curantur (Gleiches wird durch Gleiches geheilt), sondern simila similibus curentur (Gleiches möge durch Gleiches geheilt werden). Der Wunschcharakter ist äußerst entscheidend. Von hier aus springt man mit einem kurzen Schritt in den Bereich des sakralen Gebets, das ja immer eine Bitte in’s Offene ist, nie Beschreibung eines feststehenden Zustandes.
Dankreither nun - Verehrer der griechischen Mythologie, der er als junger Mann gewesen - bevor er die Gelübde der römisch-katholischen Priester hatte ablegen und in Folge dessen auch geloben müssen, auf viele sogenannte irdische Freuden verzichten zu wollen, den Rat seines uralten Mitbruders Milthus Eigenbrecht befolgt, eine Forschungsreise nach Knossos anzutreten, um auf dieser Insel mit dem bekannten Labyrinth den schrecklichen Geheimnissen von König Minos und vor allem seiner Gattin Pasiphae nachzugehen. Auf dieser Reise studierte Dankreither die traurigen und verwerflichen Schicksale aller der in dem sattsam bekannten Mythenkranz beteiligten Götter und Personen und war fortan davor gefeit, entsprechenden Versuchungen Satans nachgeben zu wollen, wo dieser sich der Dienste von Eros und seiner Bande zu Gehilfen wählt, um verderbliche Dinge und abscheuliche Werke an uns Menschenkindern zu vollführen.
Dankreither hatte während seiner Reise nun entdecken dürfen, dass der Aquamarin, wie man eine besondere Abart desselben Gesteins auf Knossos finden kann, die ganze Geschichte, welche eben angedeutet wurde, in sich und seinen Kristallgittern beschlossen einher führt und immerdar noch bis in Ewigkeiten trägt - so etwa, wie ein Diapositiv, wenn es vom Lichte durchstrahlt wird, negativ dasjenige zeigt, was auf ihm vorher eingezeichnet worden ist. So hatte Dankreither die Aquamarine also während der Reise immerdar bei sich getragen und ihre Steine dann auch reichlich mit in die Stadt seines frommen Kaisers an der Donau überführt, wo er seine geplagtesten Pfarrkinder nicht selten mit in kunstvolle Reliquiare gefasste Kristallsplitterchen beschenkte, dann nämlich, wenn dieselben unter jenen Plagen litten, wogegen eben nur dieser spezielle Stein half. Als der Vorrat allerdings nun zur Neige zu gehen drohte - ja, schon als absehbar wurde, dass er sich eines schlimmen Tages erschöpfen würde, versuchte sich Dankreither darin, den Wirkmechanismus des Steines mit Hilfe von Zahlen und Buchstaben aus der materiellen Wirklichkeit seiner Kristallgitter auf ein am Pfingsttag geweihtes und geheiligtes Pergament zu übertragen, über welche Arbeit er fast wahnsinnig geworden zu sein scheint - was aber in und vor der Öffentlichkeit bis auf den heutigen Tag nie recht publik gemacht worden ist. Jedenfalls muss Dankreither in den letzten Monaten seiner Tätigkeit als hoher geistlicher Herr nur noch Zahlen und Buchstaben gemurmelt und damit seitenlange Berechnungen angestellt haben, wobei er von überirdischem Glanze umgegeben inmitten von halbdurchsichtigen Engelwesen beiderlei Geschlechts angetroffen worden sein soll. Als er am 10. Juni 1823 verstarb, fand man im Geheimfach seines Stehpults die Schrift des vorzeiten von der Kirche verbrannten Giordano Bruno mit dem Titel „Die Kabbala des Pegasus.” In diesem Büchlein waren etliche Stellen angestrichen - und zwar mit verschiedenen Farben. Und die moderne Bruno-Forschung nimmt an, dass Dankreither unterschiedliche Farben dazu gebraucht habe, der Originalausgabe des auf dem Scheiterhaufen Geendeten ein Geheimnis und dessen versteckten Code zu entreißen. Bruno vertrat in „Die Kabbala des Pegasus” am dezidiertesten die damals absolut verbotene Meinung, dass im Universum alles beseelt sei und deshalb im Sinne der antiken Lehre des Pantheismus eine Identität von Gott und Natur angenommen werden müsse. Absolutes Wissen sei nicht durch theologische, sondern durch naturwissenschaftliche Erkenntnis zu erforschen. An dieser Stelle wurde für Dankreither die alchemistische Praxis wiederum bedeutsam. Sie - so folgte er den Gedankenlinien Brunos - würde durch Manipulationen der materia medica vermittels Wort und Spruch, Geste und Ritus nicht nur eine Veränderung ihrer elementa, sonder natürlich auch in Sonderheit der eventa (der Ereignisse) bewirken können. Soweit also im Groben der Inhalt der beiden Schriften, auf deren Erforschung Leberecht Gottlieb jetzt so außerordentlich scharf war …
Leberecht sucht immer noch die entsprechenden Stellen, an denen die Theorie von Schrödingers Katze andockt. Ja - Leberecht scheint es so, als ob Dankreither im Verfolg Brunos schon damals eine denkbare Vorform der quantenmechanischen Paradoxa entdeckt hätte. Mit dieser Vorform ließe sich beschreiben, was heutigentags bisher zu Recht bestritten wird: Dass sich nämlich die Singularitäten aus der mikroskopischen Quantenwelt unter Umständen auch auf die Vielkörperwelt übertragen lassen. Dass also eine Katze z u g l e i c h tot !und! lebendig sein kann. Dass dieser sonderbare Zustand der Überlagerung von einander Gegenteiligem sozusagen „als verschmiert” zu bezeichnen wäre - aber durch den Gebrauch bestimmter Worte und Zahlenreihen in die eine oder andere Richtung leicht zu beeinflussen wäre. Dass es also nur ein kleiner Schritt wäre, jene Wahl am 1. September in Dresdens Stadt und Landkreisen - noch mehr aber die am 5. November in God's Own Country - geschickt zu beeinflussen. Wenn man denn den Konjunktiv CURENTUR in rechter (bzw. hier einmal unmissverständlicher ausgedrückt: in angemessener) Weise benutzen würde …
Ach - es war schon ein Jammer - da hatte er die beiden Geheimschriften als junger Student damals dumm lachend nur überschludert. Innerhalb eines Proseminars zur Geschichte der Gegenreformation musste der Knabe Leberecht „das unsinnige Zeug,” wie er sich damals ausdrückte, lesen. Heute als Greis wünscht er sich, dass er Dankreither und Bruno wirklich studiert hätte - nicht nur übersprungen, um damit endlich fertig zu werden und eine schwache Arbeit von elf Seiten abzugeben, welche er nach Erhalt derselben samt Note „Drei” noch am selben Tage wegwarf, nachdem Irene ein Fischbrötchen drin eingewickelt hatte. Daran konnte er sich noch ganz genau erinnern …
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