göttliche Musik - Leberechts Traum
Leberecht Gottlieb (53)
53. Kapitel, in welchem wir etwas über Sphärenharmonik erfahren und von jenem Traum, durch welchen Leberecht Gottlieb in der Hütte der Nichte des Taxifahrers Abdul Ibn Abdullah heimgesucht wird ...
Leberecht Gottlieb wurde also am Abend des 29. August 2024 sofort Beute allertiefsten Schlafes. Das war aber kein süßer Schlummer, in den er da sank und auch kein erquickender Schlaf, welcher ihn umfangen wollte. Es war eine jener Ohnmachten, welchen Karl May eines seiner erschütterndsten Gedichte gewidmet und dieses dann (Winnetou Band II) dem verwirrten Dichter namens William Ohlert in die Schuhe geschoben hat. Ein allerschreckender Schlaf, aus dem es eigentlich kein Erwachen mehr geben kann …
Während draußen die Sterne alle am Set waren, der Saturn hoch oben am Himmelslot strenge auf die ihm seit jeher untertanen Himmelslichter und auf das Land samt Leuten herab schaute, ging im Osten gerade der Planet des Zeus auf, Jupiter - und bestrahlte den gestrengen Herrscher der Grenzen und Linien mit separierendem Quadratschein. Zumal der so Bestrahlte sich rückläufig und im fremden Zeichen des Jupiter - dem der Fische - befand, konnte man trotz aller Pein doch auf Gutes hoffen - und das Schlimmste hintanzustellen war erlaubt. Leberecht war ein glühender Liebhaber des bestirnten Himmels, genauso wie des moralischen Gewissens in der eigenen Brust. Seine Amtsstube beherbergte damals für lange Zeit die Bildnisse Friedrichs des Großen, Immanuel Kants und Philipp Melanchthons - über dem alten ererbten Pianoforte hatten die drei gehangen. Dieses Instrument ließ Leberecht nicht gleichschwebend stimmen, sondern pythagoräisch rein. Der blinde Fachmann, den er zur heiligen Handlung der Klavierstimmung aus Meißen mit dem Dienstfahrzeug Marke Trabent - später VW Golf jährlich zweimal abholte, war über die anspruchsvolle Aufgabe immer hoch erfreut gewesen. Zugleich aber auch jedesmal fast wahnsinnig geworden, bis er schließlich auch die allerletzte ungute Schwebung auf der Seite zu „killen”, wie er sich ausdrückte, vermocht hatte. Leberecht durfte dann zwar nicht alle denkbaren Stücke dem Instrument anvertrauen - und deshalb galt er bei den Kirchenmusikern seines Spengels als verschrobener Sonderling.
Nein, nein - man konnte eben den ganzen Lobpreiskram und die Taizéliedchen der Gebrauchsmusik auf Leberechts Klavier nicht abnudeln. Nur die ganz frühen Sachen von Bach, Stücke aus der französischen und deutschen Renaissance und eben Gregorianik. Das ging. Jedoch die Sternenharmonien und der ganze Keplersche Planetenkreis wurden hörbar, wenn das Klavier erklang - und die alten Weingläser im Vertiko fröhlich mitschwangen, um ihren eigenen Schall mit dem der Bronzesaiten im Piano Forte Leberechts zu vermählten und selber zu erklingen, ohne durch grobe Finger vorher angerührt worden zu sein.
Keiner der Kollegen Leberechts wollte sich für solche Dinge erwärmen. Und einmal geschah Folgendes - die benachbarte Pfarrfamilie Faderlich aus Meißen war zu Besuch „auf Hausmusik” gekommen. Die Pfarrfrau Irene Charlotte geborene Bräserecht spielte Violine, bzw. wollte sie an diesem Tage spielen - brach aber nach einigen harmonischen Probegriffen auf Leberechts Piano sofort ab, packte ihr mit bunten Seidentüchern eingeschlagen gewesenes Instrument wieder zurück in den Kasten und sagte in Leberecht gegenüber in tadelndem Tonfall: „Herr Gottlieb, Ihr Klavier müsste erst richtig gestimmt werden, ehe wir miteinander konzertieren!" Leberecht versuchte daraufhin, der missmutig gewordenen Dame den Unterschied zwischen gleichschwebend, mitteltönig, pythagoräisch rein, Kirnberger III und Werckmeister I begreiflich zu machen, merkte aber an den Augen der Virtuosin, wie dieselben bereits nach 15 Sekunden zu verglasen begannen - und da lies er es lieber sein. Schließlich wickelte Pfarrfrau Irene Charlotte Faderlich geborene Bräserecht Ihre Geige wieder aus und spielte zu den Blockflöten ihrer beiden mitgebrachten Töchter und dem Fagott des Gemahls noch irgendeine Art Ave Maria. Und dann war Schluss - ein für allemal.
Heute Abend aber, dicht am Saume der Mitternacht angekommen, zogen sie alle oben am Himmel nach der Ordnung des Ägypters Pythagoras auf ÷ der HERR Zebaoth ließ seine lieben Sterne aus ihren Kammern hervor gehen, auf dass der kosmische Harmoniegesang unhörbar den Nichtwissenden, hörbar allen Ehrfürchtigen und damit auch Leberecht in seinem abgründigen Traum geleite. Ein Traum, der ihn bis hinab in die Unterwelt führen sollte, wo Seth, der Schwarze, seiner alles fressenden Ammit gebietet und vor Horus, Isis und Osiris das Totengericht an der großen untrüglichen Waage stattfindet, ohne dass der begütigende jüdisch/christliche Erzengel Gabriel mit dem kleinen Finger dabei steht und solange schummeln darf, bis die Schale sich zu unseren Gunsten dann doch noch senken will, obwohl man selber durch lautes Menetekel als viel zu leicht befunden worden ist.
Genauso war das - und unser Held Leberecht sank bis hinab auf den Grund des Grundes, von wo aus sich alle unsere Träume aufmachen dürfen, um den Geist entweder zu schrecken oder zu trösten, zu lenken und zu leiten bis hin zu dem Ziel, das ihm auf rätselhafte Weise bestimmt ist. Leberecht träumte heute Folgendes:
Sein alter Habilitations-Professor Caspar Nailinger stand oben auf schmalem und morschem Brett, welches über einen tiefen Abgrund gelegt war. Vor ihm saß die ägyptische Katzengottheit Bastet und blickte mit einem geschlossenen und einem weit geöffneten Auge den Professor an, der in seiner Linken den geraubten Skarabäus hielt, in der Rechten aber ein kleines Büchlein barg. Sonderbarerweise drehte die Katzengottheit Bastet Leberecht den Rücken zu. Trotzdem sah dieser das geschlossene und das geöffnete Auge des Fabeltieres durch den Schädel der Katze hindurch. Caspar Nailinger hatte nun - Leberecht erkannte es im Traume ganz deutlich - das Büchlein mit dem Daumen der rechten Hand aufgeschlagen und legte den grüngoldenen Skarabäus in die Mitte des Büchleins hinein. Dann klappte er das Büchlein zu und presste es zusammen, so dass der Käfer eigentlich zerstört worden sein musste. Aber im Traum ist alles sonderbar anders, wie wir wissen. Denn - o Wunder: Der Käfer entfaltete sich zum Schmetterling und flog aus dem geschlossenen Büchlein nach entsetzlichem Gebrumm empor. Verwandelte sich danach zuerst in eine wilde Fledermaus, dann in einen scheußlichen Drachen und zum Schluss in eine grüne Militärmaschine, die nach rechts abdriftete und gelben Qualm absondernd verschwand.
Leberecht erwachte schweißgebadet und schlief wieder ein. Noch zweimal träumte er dasselbe Bildgesicht. Dann war die Nacht zu Ende. Er aber lag wie ein Toter auf der Schilfmatte. Man musste den armen Träumer wach rütteln - als die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Und lud ihn gleich zu einem späten Frühstück ein. Es würde Fladenbrot mit Kamelbutter und Honigmarmelade geben, hieß es verheißungsvoll. Beritha Kronmann brachte auch noch ein Glas Nutella mit - „aus der alten Welt” sagte sie lächelnd und Leberecht nickte.
Vor dem Frühstück hatte er seinen Traum noch schnell der Notizen-App seines Smartphones anvertraut, wohlwissend, dass kundige Mitarbeiter des Apple-Konzerns seinen Text lesen konnten. Wenn sie es wollten. Und sie wollten es durchaus … Die omnipotenten Algorithmen hatten schon seit längerer Zeit damit begonnen ihre Krakenarme bis in die Tiefen von Leberechts Telefon auszustrecken. Und von dort aus sogen sie begierig alles auf, was der uralte Geistliche aus dem Osten Deutschlands, das vielen als Land der Dichter und Denker, anderen als eines der Richter und Henker gilt, sich durch den Kopf hatte gehen lassen müssen ...
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