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der Geist erscheint
Leberecht Gottlieb (56)

die Pythia von Siwa in jungen Jahren

56. Kapitel - in welchem Leberecht die Ordination der Nekromatin von Siwa betritt. Wir erfahren, dass Leberecht gar nicht genau weiß, was er fragen will und wie ein guter Geist aus der Tiefe dem Emeritus aus Sachsen auf die Sprünge helfen wird. Wir schreiben immer noch den 31. August 2024 ...

Leberecht Gottlieb keucht. Die fast einhundert Stufen zur Stube für Zukunftsschau und Vergangenheitsdeutung nimmt der alte Mann nur mit großer Mühe. Totenbeschwörerin Aischa Endorita empfängt den Ruheständler aus Dresden am Portal des Orakelbezirks. Das Weib ist heiter und gesammelt, der Ratsuchende jedoch verunsichert. Die Hände in den weiten Taschen ihres Gewandes versenkt, nickt Aischa Endorita dem erschöpften Besucher ermutigend zu und öffnet die uralte Tür, deren bronzene Griffe schon Alexander der Große berührt haben soll, wenn wir dem persischen Hofbiographen Kallistenes Glauben schenken wollen. Heimlich huschen wir hinter Leberecht mit ins Innere der fabelhaften Lokation. Die Tarnkappe von ferne beobachtender Leserschaft macht uns unerkanntes Beiwohnen an der Orakelei möglich.

Leberecht nimmt auf einem Drehstuhl Platz, dessen Armlehnen mit Löwenköpfen ausgestattet sind, so dass die Hände des alten Pfarrers auf den Hirnschalen der geflügelten Geschöpfe zu liegen kommen. Aischa Endorita bezieht gegenüber Stellung und wirft sich in Positur. Sie mimt die Haltung medial begabter Frauenspersonen aus der Jugendstilzeit und spielt diese Attitüde mit nachlässiger Distanz zu sich selbst. Nun fordert sie den sächsischen Pastor auf, eine Frage zu formulieren - möglichst deutlich und ohne Hintergedanken. Denn, fügt sie dozierend hinzu, es seien die eigenen Gedanken, welche die Antwort auf die Frage latent schon immer beinhalten würden. Und aus diesem Grunde müsse der Ratsuchende sich klar darüber sein, was er wirklich wolle. Nur dann bekäme die seherische Pythia Zutritt zum Tiefenbewusstsein des Fragenden gestattet. Zum Tiefenbewustsein, auf dessen Grunde alle jene schrecklichen Gedankengebilde hausen, aus denen Fragen überhaupt erst einmal als grauer Rauch aufstiegen, welcher der Ahnung ihre Schrecken in Form sogenannter Antworten vor sich selbst zu verbergen versucht. Soweit und etwas umständlich die Totenbeschwörerin.

Leberecht druckst herum. Als evangelisch-lutherischer Geistlicher weiß er genau, wie Wahrsagerei in der kirchlichen Tradition bis auf den heutigen Tag keinen guten Leumund für sich beanspruchen kann. Zwar wollten in jüngster Zeit einige erweckliche Gruppen bildungsferner Sozialpädagogen, die sich im Raum der Kirche befristete Projektstellen zu erschleichen verstanden hatten, für den Bereich der offnen Jugendarbeit sogar das Okkulte entdecken, da war dann aber die Dresdener Kirchenleitung, nachdem sie vorher anderen Unsinn durchgewinkt hatte - wovon wir jetzt lieber schweigen - scharf dazwischen gegangen. Einerseits schämt sich Leberecht, dass er den Weg nach hierher angetreten hat. Andererseits - ergab sich das alles nicht wie ein großer Zufall einfach so von selbst? Und war nicht bekannt, wie oft der Zufall der beste Einfall Gottes gewesen ist?

Aischa Endorita verfällt ab jetzt in einen würdigeren Tonfall. Das gelingt ihr durch Imitation des Sprachduktus’ längst verstrichener Jahrhunderte. Sie fragt: „Worüber, o Peregrine, soll Euch die Untere Welt Auskunft geben?” Sie hätte natürlich auch sagen können: „Was wollen Sie denn gerne wissen, Herr Gottlieb?” Aber nein - alles in der dritten Person Pluralis, latinisiert und einem „o” vor dem Vocativ der latinisierten Vokabel „Fremdling.” Genauso muss es vielleicht sein - sonst funktionieren die Geister nicht. Leberecht fühlt sich nicht gut, zumal ein seltsamer Duft sich auszubreiten beginnt. Die Beschwörerin hat Räucherstäbchen entzündet, die alle drei kräftig daher qualmen. Leberecht räuspert sich und macht sich auf, die Frage der Alten zu beantworten. Es geht ihm um seine Kirche. Sozusagen - es dreht sich alles um die Kirche. Und um Sachsen - alles um Sachsen. Die Totenbeschwörerin lächelt. Das mit Sachsen kann sie verstehen. Auch sie liebt die ehemalige Heimat. Aber aus der Kirche ist sie längst ausgetreten. Die Landeskirche mit dem Führerhäuschen in der Dresdner Lukasstraße kam ihr schon in den Dreißiger Jahren zu provinziell und verhockt daher. Sie selbst war eine Frau von Welt und Kultur. Und von früh auf eine jener aufgeklärten Rationalistinnen, welche Karl Popper, Paul Feyerabend und Thomas Kuhn waches Interesse schenkten. Auch im Heidegger und dessen Freundin Hanna Arendt las Aischa Endorita gern. Ihr Bücherregal neben dem Kristallspiegel gäbe bei genauerer Inspektion Auskunft über das Lesepensum einer gebildeten Frau, von deren Sorte es in den heutigen Landesparlamenten keine mehr gibt. Leberecht schaut sich im Zimmer der Nekromantin um - und entdeckt ein Gemälde. Auf Nachfrage erklärt die Besitzerin, dass sie da selbst abgebildet ist. Im Phantasiealter einer Mitzwanzigerin von Sascha Schneider gemalt und ihr kurz vor dem großen Streit geschenkt, habe sie dieses Bild aus Sachsen hierher nach Ägypten mitgenommen. Ja - es sei unansehnlich geworden. Die vielen Fliegen. Und man selber sieht mit den Jahren auch nicht besser aus. Dass sie Totenbeschwörerin geworden ist, habe sich einfach so ergeben. Mit irgendwas muss man seine Brötchen verdienen. Sie sei hier in der ägyptischen Wüste irgendwie gestrandet. Vielleicht waren es auch die Datteln, die es ihr angetan hatten. Und weil sie sich im Laufe der Jahre schließlich auch als überzeugte Misandreuse erkennen musste, war der Job hier oben im Turmalinzimmer nicht die schlechteste Wahl. „Aber nun heraus, Herr Gottlieb, was wollen Sie wissen!”

Es fällt Leberecht schwer, sich auf eine bestimmte Frage zu konzentrieren. Wie leergefegt ist sein Hirn. Und so fragt er die Beschwörerin, ob man auch fragen dürfe, was man fragen müsse, wenn man fragen solle. Die Frau nickt und meint, dass sei eine sehr gute Frage und gar nicht so unüblich. Sie schlage deshalb vor, in den Hades - oder die Scheol - hinabzusteigen und dort bei einem kompetenten Geist zu ergründen, was einem am meisten am Herzen läge. Sehr oft komme gerade auf diese Weise die Wahrheit zu Tage. Leberecht nickt und merkt, dass er einen trockenen Hals bekommen hat. Das Orakelweib reicht ihm ein Glas Wasser, Leberecht stürzt es hinunter. Ist irgendetwas Hexenmäßiges beigemischt? Denn schon geht es los …

Leberecht sieht, wie sich eine Gestalt aus dem gediegenen Turmalingestein der Nordmauer des Raumes abzulösen begann. Die Gestalt naht sich dem kleinen kippelichen Tischchen, an dem Leberecht und die Hexe Platz genommen haben. Die Gestalt murmelte etwas in der Art von: 

„Wer hat in meinem Schlummer mich gestört? / Wes’ Stimme hab im Grabe ich gehört?”

Leberecht ist hoch erschrocken. Das funktioniert also tatsächlich, denkt er bei sich selbst. Der Geist scheint es trotzdem mitbekommen zu haben, denn er meint: „Natürlich funktioniert das!” Aischa Endorita lobt den erschienen Geist für sein Erscheinen und besonders lobt sie auch das Kleid, das er sich übergeworfen hatte. Der Geist ist genau so gekleidet wie die alten Pharaonen, nur daß das Gewand irgendwie zierlicher - will heißen indianischer - gefertigt worden war, als das der ehemaligen Könige aus dem Niltal. Die Schuhe des Geistes waren nämlich mit Stachelschweinsborsten und die Nähte seiner Beinkleider mit feinen, roten Nähten und menschlichem Skalphaar geschmückt. Die Gestalt trug einen Beutel am Halse und eine kleine Tonpfeife dazu. Der Kopf war unbedeckt und hatte das graue Haar zu einem Schopfe aufgewunden, eine Feder schmückte das Ganze, welche wohl von einem Geierbalg herstammen mochte. Das Gesicht war eingefallen und wies als Farbe ein mattes Hellbraun mit einem leisen Bronzehauch auf. In den ernsten und dunklen Augen des Geistes glomm ein sammetartiger Glanz. Leberecht zuckte zusammen. Hatte nicht Karl May seinen Winnetou auf ähnliche Weise beschrieben?

Dann begann der Geist zu sprechen: "Ich bin der Geist, den du begreifst. Der Geist Samuels und Winnetous. Dort drunten bei uns im Schatten ist alles gleich. Auch Du bist dort schon und alle jene, welche noch gar nicht geboren sind und nie geboren sein werden. Alle sind da. Und ich nahm eine Gestalt an, die du begreifen kannst. Was willst du von mir wissen. Mach schnell. Die Zeit schmerzt - wir sehnen uns zurück in die Ewigkeit."

mehr von Leberecht Gottlieb schon morgen ...

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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