Zwischenstück
Leberecht Gottlieb (58)
58. Kapitel, in welchem der Leser die Funeralfeier der Endorita erlebt, dabei Atem schöpfen kann und auf den morgigen Tag vorbereitet wird ...
Das weise Weib am Orakel zu Siwa ist eine gute Frau gewesen ... In Anlehnung an die alte Geschichte aus Samuel 28 hatte sie sich den Namen Aischa Endorita erkoren, was soviel wie Frau aus Endor bedeutete. Ihr bürgerlicher Name lautete Sulamith Abelstejn. Sulamith Abelstejn war zur Dämmerungsstunde des heutigen Tages im hohen Alter von 113 Jahren ganz sanft - sozusagen bei der Arbeit im Dienst am Verborgenen - entschlummert. In der gerade eben vergangenen Nacht, nachdem sie den Geist des Propheten und Königmachers Samuel bzw. des Häuptlings Winnetou noch einmal aus der Scheol herauf ans Licht gerufen hatte, um gemeinsam mit ihm und dem Ruheständler Leberecht Gottlieb einen Brief zu verfassen, der es in sich haben sollte.
Nun lag ihr Leichnam auf einer Bastmatte vor dem Orakelheiligtum und die Klageweiber der Oase Siwa hielten mit viel Geschrei und Tanz jene Trauer ab, welche im Orient üblich ist und von der Karl May in manchen seiner Bücher unnachahmlich berichtet. Man hatte den Leib der Seherin mit allerlei Schmuck üppig herausgeputzt. Ein diamantenes Krönchen zierte das Haupt der Greisin und einige Gebinde Blumen säumten den schlichten Holzsarkophag, in den hinein man die Verehrte gebettet hatte. Ein besonders schmuckes Sträußchen künstlicher Blüten hatte irgendein emanzipierter Frauenkreis des Vorwerkes Siwa der Verblichenen zwischen die Finger geflochten. Man munkelte, dass sie vom fernen Orte Sebnitz nahe der alten Heimat der Seherin stammten und dass sie aus dem Altarblumenstrauß der kleinen christlichen Ortskapelle gezupft worden wären, welche Kapelle ganz dicht am Abschussplatz für irgendwelche Raketen gestanden, seit Jahren nicht mehr genutzt und deshalb kürzlich zum großen Entsetzen der ägyptischen Diasporachristen abgerissen worden war. Die Plastikblumen hatten sich gut gehalten - aber nun wurden sie ihrem endzeitlichen Zwecke verspätet doch noch zugeführt und schwankten zusammen mit der aufgebahrten Nekromantin in Richtung Kremation, denn die Verblichene hatte testamentarisch bestimmt, ihr Leib solle wie der des archetypischen Phoinixvogels Carl Gustav Jungs auf einem Sandhügel unweit des Orakelberges in Flammen aufgehen und sich mit den Geistern der Luft vermischen. Ein altes Gewand aus dem Fundus des Turmalinzimmers umhüllte die vom Gang durch die Geheimnisse der Zeit ausgezehrten Glieder der würdigen Greisin. Von drei Rössern gezogen holperte der Wagen, auf dem die Alte zur letzten Ruhe und Reise Platz nehmen musste, unter den grünen Wedeln der vom Abendwind bewegten Palmenallee dahin. Allerlei Volk folgte dem Gefährt und tat so, als ob man trauere. Und man trauerte wirklich - denn nun war es endgültig und wirklich aus und vorbei mit dem Orakel von Siwa.
Wer soll jetzt die Kinder lehren
Und die Wissenschaft vermehren?
Wer soll das Orakel leiten
mit des Amtes Tätigkeiten?
Dieser Vers ging Leberecht durch den Kopf und er selbst ging mit im Trauerzug. Keine Musik, keine Glocke läutete. Am Horizont ragten irgendwelche Raketen empor. Dann nahte ein fast nackter Knabe von etwa zwölf Jahren und warf eine lodernde Fackel in den Holzstoß, auf den man den Sarg der Sulamith Abelstejn alias Aischa Endorita balanciert hatte. Nach zwei Stunden war von allem nur noch ein kleiner Haufen schneeweißer Asche vorhanden, die der Wind zu verwehen begann. Aber - ganz oben im Blau des Himmels zog ein Vogel seine Kreise. Und das war kein Geier ...
Man schreibt heute den 1. September des Jahres 2024. An diesem Tag hatte vor fünfundachtzig Jahren der zweite große Weltkrieg begonnen und Leberecht war vor einigen Wochen ebenfalls so alt geworden. Draußen in weiter Ferne urdeutscher Heimat wählten die letzten Leute der drei Länder Brandenburg, Thüringen und Sachsen ihre Staatsregierungen neu und der Brief, den der Geist Samuels (oder Winnetous) gemeinsam mit der Totenbeschwörerin durch Leberecht Gottlieb hier in Ägypten geschrieben und der danach erfolgreich ins Netz getan worden war, zeitigte irgendeine Wirkung - wie alles wirkt, was wirklich ist. Oder anders gesagt: Wie nur das wirklich ist, was wirkt.
Viele hatten diesen Brief nicht gelesen. Manche ihn nur überflogen. Noch mehr hatten ihn ganz ignoriert. Einige aber waren hin gegangen und überlegten sich im letzten Moment, ungültig zu stimmen. Oder das Kreuz doch wieder an eine ganz andere Stelle zu setzen, als sie es sich ursprünglich vorgenommen hatten. Manche gingen gar nicht hin, denn der Satz des Geistes Samuels (oder Winnetous) dröhnte in ihren Ohren noch immer:
"Seid Ihr bereit, den Preis zu zahlen?
Es geht um Eure Seele. Schon,
dass Ihr an dieser Wahl teilnehmt
und Euer Kreuzchen macht bei diesen oder jenen.
Verwickelt Euch auf alle Zeit
in einen Schuldzusammenhang,
aus dem ihr nie entfliehen könnt.”
Das klang selber schon wie ein Orakelspruch. Rhythmisch gebunden war es zudem auch noch ... Manche blieben deshalb wie Iwan Gontscharows Oblomow den ganzen Tag über einfach im Bett. Manche unternahmen einen Tagesausflug zu Hans Fallada nach Carwitz, bzw. nach Pillnitz zur Gräfin Cosel oder machten sich zu den oberfränkischen Vierzehnheiligen auf und gingen nicht hin. Andere eilten in den Wald, um Pilze zu suchen oder lasen nach langer Zeit ein wirklich gutes Buch. Wieder andere machten einfach Pause. Von allem! Einige hatten ihre Personalausweise verlegt und die Wahlbenachrichtigungen mit dazu. Kurzum - der Brief der Drei zeitigte seine Auswirkungen - am Abend würde man hören, welches Ergebnis das seit langem ersehnte und zugleich gefürchtete Elektionsevent in den ostdeutschen Ländern würde gezeitigt haben. Das musste genügen.
Für Leberecht Gottlieb aber, der übrigens auch nicht hatte wählen gehen können, galt es zu planen, wie man aus Siwa irgendwie wieder fort käme. Er wandte sich in dieser Sache hilfesuchend an Beritha Kronmann und seine Gastgeberin Badiya Badavi, ob sie ihm wohl behilflich sein wollten. Dieses war der Fall - aber vorerst luden die beiden Frauen den Geistlichen ein, solange bei ihnen am Ort zu bleiben, bis seine Reisegruppe ihn als Verschollenen in Kairo wieder zum Abflug nach Europa und hin zur Stadt Leipzig erwarten würde. Die Rückreise der Gruppe war für den 11. September geplant. Gewiss - ein nicht unproblematisches Datum für Flugdaten, aber die Zeit läuft nun einmal und mit ihr dreht sich der Kreis aller Ereignisse immer wieder an den selben Kalenderdaten vorbei.
Gleich noch an diesem Abend bezog Leberecht Gottlieb die kleine Hütte der verblichenen Totenbeschwörerin und gedachte, sich die Tage bis zur Abreise in dem doch recht komfortablen Haus gemütlich zu machen. Essen und Trinken erhielt er für einige Dollar bei den Damen Kronmann und Badavi. Literatur gab es bei Sulamith Abelstejn in Hülle und Fülle. Sogar eine Bibel stand im Regal, es war die alte Lutherausgabe von 1912 und Leberecht schlug den Predittext für den heute nun schon fast vergangenen Sonntag auf, den vierzehnten nach Trinitatis. Dort hieß es:
"Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir ‚lieber Vater‘ rufen! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi. Wir leiden mit ihm, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.”
"Wie doch die Bibel immer wieder einmal so richtig Recht hat!" dachte Leberecht und ließ noch einmal das in den vergangenen vierundzwanzig Stunden Erlebte vor seinem inneren Auge abrollen. Da war also tatsächlich dieser Geist aus unbekannten und dunklen Gefilden heraufgefahren gekommen und der Körper Sulamith Abelstejns im Rauch des Zedernholzes ebenfalls. Vielleicht geht es ja niemals nur bergab, sondern immer auch hinauf? Dachte Leberecht und mit diesem Gedanken vor die Tür seiner Behausung und schaute in den Himmel, wie lange, lange vor ihm Vater Abraham. Der Vogel kreiste oben nicht mehr und auch Sterne waren nicht zu sehen. Die Armbanduhr zeigte 18 Uhr. "Zu Hause hören sie jetzt Glockengeläut zum Angelus", fiel Leberecht ein und, dass die Wahllokale gerade in diesen Minuten schlössen. Bald wären erste Hochrechnungen zu erwarten.
Nachdem er das Vaterunser aufgesagt und danach im Hause vergeblich nach einem Fernsehgerät gesucht hat, startet der Mann aus Dresden die Tagesschau-App seines Smartphones und harrt der ersten Hochrechnungen. Es ist natürlich klar, dass im Hause einer Totenbeschwörerin und Seherin kein Platz für ein modernes TV-Gerät zu erwarten war. Wir aber erwarten mit Leberecht Gottlieb die Prognosen für Brandenburg, Thüringen und - was uns am meisten interessiert - Sachsen! Denn vieles hat mit Sachsen zu tun. Eigentlich alles …
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