... in der Bibliothek
Leberecht Gottlieb (59)
59. Kapitel, in dem wir erfahren, dass man im Ausland sein Smartphone laden muss und den PIN-Code nicht vergessen haben darf. Und wie Leberecht einen interessanten Fund macht ...
Das Funeralevent für die Seherin des Orakels zu Siwa hatte Leberecht Gottlieb enorm mitgenommen. Er, ein Profi, der in jahrzehntelanger Zeit seines Dienstes für Kirchen und Kapellen etwa 800 Beerdigungen ausgerichtet hatte, ist durch das Feuer vor der kleinen Pyramide auf dem Sandhügel und den kreisenden Vogel ganz weit oben im Blau des Himmels dermaßen beeindruckt gewesen, dass der arme alte Kopf sich am späten Abend zu keinem klaren Gedanken mehr verstehen konnte. Der pastor emeritus saß in der Behausung Aischa Endoritas und starrte auf den hellerleuchteten Bildschirm des Smartphones, um aus den Nachrichten die Hochrechnungen zu erfahren, welche vielleicht einen Wink dafür geben würden, wie, was und wer in der Heimat gewählt worden war. Und ob die Schwarzen, die Blauen, die Gelben oder Grünen bzw. Roten an die Hebel der Macht gelangen würden.
Jedoch - es tat sich nichts. Anders gesagt, Leberecht schlief einfach ein und das Smartphone verbrauchte erst den letzten Strom und dann den allerletzten, welchen es in der Batterie seit dem letzten Aufladen vorrätig gab. Am Morgen noch voll - am Abend erschöpft, wie der neunzigste Psalm es im Blick auf die Blumen des Feldes seit Jahrtausenden besingt. Kurz gesagt - Leberecht verbrachte die Nacht im Tiefschlaf und sein Telefon war dementsprechend tiefentladen. Er, der sonst immer peinlich darauf bedacht war, ja und um Gottes Willen das Aufladen seines elektronischen Freundes nicht zu verabsäumen - vergaß es am 1.September dieses Jahres 2024. Schrecklich das Erwachen. Schrecklich der Morgen, schrecklich die Tatsache, dass nach erfolgter Aufladung des Akkumulators aus dem Silikon Valley bzw. der Chinesischen Volksrepublik der PIN-Code in Leberechts Kopf nicht auffindbar, nicht erinnerbar und wie ausgelöscht war. Sechs Ziffern mussten es sein - irgendwas mit 7 und 4. Aber nach zwei vergeblichen Versuchen und den erfolgenden Error-Meldungen gab Leberecht auf. Denn die PUK-Nummer hatte er schon gar nicht zur Verfügung. Er war definitiv nun ohne Telefon und Verbindung zur Welt. Er konnte niemanden anrufen und niemand konnte ihn erreichen. Er war dem Orakel in Siwa ausgeliefert.
Leberecht stürzte - soweit das Alter es ihm erlaubte - zu Beritha Kronmanns, ob die nicht etwas gehört habe von Sachsen, Thüringen und Brandenburg? Aber niemand interessierte sich in Ägypten für die Landtagswahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern. Eine Zeitung deutscher Zunge auf dem Basar der Stadt? Fehlanzeige. Da gab der Pfarrer i.R. sich geschlagen und wagte auch nicht, die Kronmann weiter zu belästigen, denn die Frau war auf dem Absprung nach Kairo. Versprach Leberecht jedoch, ihn über die Nichte des Taxichauffeurs gleich nach Ankunft in der Hauptstadt Ägyptens mit den nötigen Erkenntnissen im Blick auf diese Wahlen ("wo sind die nochmal?" fragte sie) auszustatten. Die junge Dame winkte dem alten und jetzigen Bewohner der Totenbeschwörerhütte freundlich aber zugleich - wie es Leberecht schien - zu wenig interessiert zu und bestieg eine Art Taxi, das noch älter sein musste als jenes, mit dem Leberecht hierher gereist war. Bald verschwand der Wagen in einer riesigen Wolke gelben Staubes und Leberecht blieb allein zurück.
Es war etwa Mittag um 12 Uhr, denn der Schatten unter Leberechts Körper war wieder zu einem einzigen Punkt zusammengeschmolzen. Ohne Uhr zu sein - das war schlimm. Im Hause der Nekromantin waren genauso wenig wie TV-Geräte Uhren aufzutreiben. Da steckte Leberecht draußen auf dem freien Platz eine Eisenstange in die Erde und malte ihr gegenüber und zwar dort, wo die Sonne in Flucht stand, die zahl Zwölf in den Sand. Er würde am Abend wieder hinausgehen und eine Neunzehn malen. Denn er wusste genau, wie die Sonne Im September und hier näher am Äquator etwa um diese Zeit untergehen würde. Am Morgen würde er zu Sonnenaufgang - die Ortzeit war in Siwa gegen die Greenwichzeit um drei Stunden verschoben - etwa gegen sieben Uhr auf dem Plan sein. Er brauchte eine Uhr - und es sollte die Ewigkeit nicht über seine Zeitorientierung obsiegen. Da kannte er kein Erbarmen. Ein Zeitreisender muss wissen, welche Zeit gerade die Ewigkeit durchmacht oder umgekehrt. Nachdem Leberecht draußen seine Sonnenuhr errichtet wusste, einige Dorfkinder hatten ihm interessiert bei seinem Werke zugeschaut, zog er sich in die Hütte zurück und inspizierte die Bibliothek seiner Gastgeberin, die sich sicher schon vor Horus, Isis und Osisris der berühmten Seelenwägung unterziehen musste und dann selber durch die Reiche der Schatten zu wandeln hätte. Bei den Ihrigen versammelt, bei Vätern und Müttern, Adam und Eva, die ja alle noch der wirklich letzten absolut endzeitlichen Befreiung zur Herrlichkeit der Kinder Gottes - wie Paulus an die Gemeinde in Rom schreibt - harren.
Ach, was gab es in diesem enormen Bücherregal nicht alles zu sehen. Natürlich eine Gesamtausgabe der Bücher Karl Mays, der ganze Nietzsche - in der alten Krömerausgabe natürlich, Schopenhauer und Jung-Stilling. Die verrufenen irrtümlich sogenannten weiteren Bücher Mosis, welche am Anfang von Leberechts Dienstzeit hier und da in den dunklen Dörfern Sachsen von irgendwelchen Besprecherinnen und Pustern noch eifrig für volksmedizinische Zwecke genutzt worden waren. Gérard Analect Vincent Encausse und Konsorten sowieso, eine Menge verschrobener Schund aus der Theosophenzeit, aber auch Jiddu Krishnamurti und Berichte britischer Reisender zu den Palmblattbibliotheken Indiens. Dann aber staunte Leberecht nicht schlecht, als er auch die ledergebundene Ausgabe seiner beiden Schriften entdeckte: Johann Nepomuk Dankreithers „Der Edelstein Lapis Aquamarinus Knossius” und Giordano Brunos „Die Kabbala des Pegasus.” Welche Entdeckung! Leberecht zerrte einen der schweren Empiresessel an das Fenster ins Licht, setzte sich und begann in dem Edelsteinbuch zu lesen:
„Der Edelstein Lapis Aquamarinus Knossius - wisse das, lieber Leser - ist von jener Treppe entnommen, welche den Engeln zu Auffahrt und Abstieg gedient, als sie im Traume dem Jakob erschienen, wie das Genesisbuch es uns vermeldet. Es ist aber recht eigentlich und bei Lichte besehen dieser Stein gar nicht ein bloßer und todter Stein, sondern ist ein besonderes Hölzlein, von dem ich Dir, lieber Uschmann, nunmehr berichten will. Namentlich wissen wir von den Alten, wie Steine die verschlüsselten Hölzer und Hölzer die entschlüsselten Steine darstellen, mein lieber Freund. Und alles dieses gehört zu der Lehre über unsere Gehilfen, die ewigen Zahlen, die noch vor aller Schöpfung der HERR in seinen Gedanken präformieret und mit deren Hülfe er darnach Himmel und Erde ins Sein gebracht.”
Leberecht las sich fest. Fast zitterte er vor Aufregung. Denn das hier war eine andere Ausgabe von Dankreithers Schrift als die, welche er damals im Studium erstmalig in Händen gehalten. Das Buch war auch wesentlich umfangreicher als die wenigen Ausdrucke aus der sächsischen Staatsbibliothek, die er zu unters in seinem Koffer mitführte. In der Ausgabe aus Endoritas Regal berichtet Dankreither offenbar einem Freunde von verschiedenen Erfahrungen aus dem Bereich der mantischen Kunst und in Sonderheit der Himmels- und Stundenschau. Und wollte um das Jahr 1783 - so hieß es im Vorwort - ein kluges Instrument ersonnen haben, mit Hilfe dessen man tiefer in die Weltzusammenhänge blicken könne, als mit den üblichen fünf Sinnen. Weil damit nun ein Thema angeschlagen ist, das auch den Leser der Abenteuer Leberecht Gottliebs berühren dürfte, haben wir uns entschlossen, hie und da einiges von der Schrift „Der Edelstein Lapis Aquamarinus Knossius” einzustreuen, um die Langeweile zu vertreiben. Denn eigentlich warten wir auf die Nachricht von Beritha Kronmann betreffs des sächsischen Wahlergebnisses …
Uschmanno, dem treuen Freund und Superintendenten in der Ferne!
Nun bin ich bereits bei etwa drei Monaten im Heiligen Lande, und jeden Tag geschehen Dinge, welche zu sehen ich mir oft schon gewünscht hatte. Lahme gehen, Blinde sehen, Tote stehen auf und Zweiflern (wie ich es bin) werden die Fenster zu untrüglicher Erkenntnis aufgestoßen. Davon will ich Dir nun berichten und Zeugnis ablegen, wie es die vielfach verlachten Wunder doch immer noch gibt und wir ihnen zu glauben nur zu träge Herzen haben. Ja, – wir sind zu träge, um alles, was unsere Augen sehen und unsere Ohren hören, in ein verlässliches Bild zu bringen, in ein Bild, welches uns zuruft: “Lazare, komm heraus!” und wir, dem Rufe folgend, alsbald die Gruft unserer Taubblindheit verlassend, vor neuen und strahlenden Fakten stehen, die unsere bisherige angebliche Weitsicht durchkreuzen und neu schreiben lassen.
Wie es von Christoph Kolumbus berichtet wird, stehe auch ich hier nunmehr vor ganz unbekanntem Land, aber nicht nur einem kleinen Eiland oder einer Insul mit braungebrannten und wilden Heidenmenschen gegenüber, die uns doch recht ähnlich sehen, sondern vor einem gewaltigen Kontinent (was sage ich:), – vor einer unendlich scheinenden Galaxie, der ich mich gern beugen will, begeistert vor ihr zu knien bereit bin, mich tief verneige und mehr fröhlich als entsetzt anerkenne, dass ich bis vor kurzer Zeit gar nichts wusste und ein elender Tropf war, trotz aller Studien, die ich bis dato getrieben.
Von allen diesen Dingen, mein getreuer Freund und ehemaliger Reisegefährte, will ich Dir nunmehr Bericht geben und genaueste Beschreibungen übermitteln. Denn weil Du mir schriebst, Du wollest dieses Holz, von dem ich Dir bereits früher einige Andeutungen gemacht habe, nun endlich nachbauen und für Dich nutzen, benötigst Du meine Hinweise und außerordentlichen Erfahrungen ganz gewiss. Ich flehe Dich aber an, lasse meine Mitteilungen nicht in die Hände der “Ungläubigen” fallen, denn was werden sie damit anfangen! Wird das Holz ihnen nicht zur verruchten Rache an uns dienen? Werden sie nicht das Wissen über den Zusammenhang der geistigen Welten gegen uns, von denen sie meinen, wir wären ihre Feinde, missbrauchen? Wer anders als ich könnte es besser wissen, da ich doch schon oft unter ihrer Scheußlichkeit habe leiden und hartes Schicksal erdulden müssen. Und wer anders als Du könnte besser verstehen was ich damit meine, als Du, da Du ja meinen gesamten Lebenslauf kennst, – bis zu dem Tag, als ein sonderbares Los uns voneinander trennte und Du jenseits der Alpen im grauen Lande der Bewohner Sachsens zurückbleiben musstest, ich aber weiter nach Sicilien abreiste und von dort auf Umwegen über Hellas hierher nach Jerusalem fand. Freilich, Du erteiltest mir damals die Erlaubnis, meine düstere Pfarrei für ein bis zwei Jahre verlassen zu dürfen, um meinen geheimen Studien nachgehen zu können, was ich nun auch tue, und unsagbare Entdeckungen mache. Möge der fremde in Marzahna an meinem bisherigen Platze meinetwegen dies und das tun, ich wandle einstweilen hier mit und unter Genien …
Aus Dankbarkeit für Deine Erlaubnis will ich Dir im Folgenden die Eigenart des Holzes - oder, wie ich dasselbe bei mir nenne: des Hermesstabes, oder Heroldstabes ganz genau kund machen. Und ich bin sicher, wenn der letzte Brief in dieser Sache Dich erreicht haben wird, dass Du schon bald nach der Zahna eilst, – dorthin, wo das liebliche Flüsschen an den Pferdewiesen besonders hellen Ufersand hat, wo die Muschelbänke sind, - und dass Du Dir dort einen Weidenstecken abschneidest, um Dir ebenfalls wie ich es getan habe und alle meine Ordensbrüder hier in der Abtei ebenso, einen Heroldsstab anfertigen wirst, um die Dinge besser zu verstehen, auch die Menschen und zum Schluss Dich selbst natürlich auch. Das Manuskript unseres vom Feuer hart geprüften Kollegen Schumann bringe ich dir mit, wenn meine Zeit hier abgelaufen sein wird und ich zurückkehren werde. Das verspreche ich dir, lieber Freund in der Ferne. Soweit für heute. Morgen will ich über den Zeitpunkt Auskunft geben, wann Du am Geschicktesten jenen Stab ernten wirst.
Tres Humble
Samuel Amadeus Dankreither (in Jerusalem)
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