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... erste Nachrichten aus Sachsen
Leberecht Gottlieb (60)

60. Kapitel, in welchem ein amtliches  Wahlergebnis übermittelt wird und Leberecht Gottlieb in seiner Lektüre vorankommt ...

Leberecht Gottlieb wühlte vom Grund seines Köfferchens die wenigen Seiten hervor, die er bisher für den "Edelstein Lapis Aquamarinus" gehalten hatte. Wie oft schon war ihm der Versuch gescheitert, den Inhalt dieser sonderbaren Schrift zu verstehen. Die Kopien aus Dresden schienen jedoch nur eine Zusammenfassung von dem zu sein, was es hier in Aischa Endoritas weitaus umfangreicherem Exemplar zu lesen gab. Leberecht wollte sich eben niedersetzen und auf dem großen Holzstisch in der Mitte des Zimmers Platz schaffen, um die beiden Exemplare nebeneinander zu legen und miteinander zu vergleichen. Da rief draußen jemand seinen Namen. Rief mehrere Male laut: „Sajid Leberecht!” Es war Badiya Badavi, die Nichte des Taxifahrers.

Leberecht trat hinaus unter die funkelnde Sonne - und nun begann zwischen den beiden ein Dialog, der mit Hilfe englischer Vokabeln Leberecht einige Informationen aus der Heimat eintrug. Badiya Badavi zeigte Leberecht ihr winziges Handy, auf dessen mikroskopischem Bildschirm eine Nachricht blinkte. Beritha Kronmann hatte Wort gehalten und irgendwo in Kairo Wissen darüber auftreiben können, was in Deutschland gewählt worden war. Anhand der farbigen Balken auf dem Mini-Bild konnte Leberecht erkennen, dass die CDU mit 32,5% als Siegerin aus dem Rennen hervorgegangen war, die AfD konnte 28% erringen und die Linken 12,3%. Grüne und SPD lagen bei 8 bzw. 7% und die FDP war mit 4% nicht mehr dabei. Leberecht hatte Mühe, bei dem starken Sonnenlicht die Buchstaben zu erkennen - sah aber, bevor das Handy sich selbst ausschaltete, dass es sich hierbei wohl noch um das Wahlergebnis aus dem Jahre 2019 handelte. Er versuchte Badiya Badavi zu verstehen zu geben, dass das das falsche Resultat wäre - nicht unbedingt das falsche, sondern eben ein uraltes. Ob denn Frau Gutmann nicht das aktuelle Resultat ebenfalls gesendet hätte? Aber weder Leberechts englischer Wortschatz noch der von Badiya Badavi reichten aus, diesen diffizilen Zusammenhang sprachlich vom Deutschen in das arabische Siwa-Beduinisch zu transformieren. Badiya Badavi begab sich zufrieden in ihre Behausung - und Leberecht frustriert in die der toten Totenbeschwörerin. Aber seine Laune besserte sich zusehends, denn auf dem Tisch lagen die beiden Manuskripte vom Lapis. Das Buch der Seherin war viel, viel umfangreicher als das schmale Heftchen aus Dresden. Leberecht setzte sich, nachdem er sich irgendeinen Kräutertee gebrüht hatte - und fuhr mit der Lektüre fort:

Uschmanno, dem treuen Freund und Kollegen. Mon cher. Es gibt wohl nichts Schöneres, als in der stillen Morgenstunde dem Freunde von solchen Dingen zu schreiben, die einem das Herz mit Frohlocken erfüllen. Deshalb will ich, wie gestern angekündigt, heute mein Versprechen einlösen und die Pflicht mit dem Edelsten, was der Mensch auf Erden kennt (das ist die Beschreibung der Schönheit), für einige Stunden verbinden und Dir weiter von diesem besonderen Holzstabe fortfahren.
Wie ich seinerzeit noch in unserem Heimatstädtchen erzählte, ist der Heroldstab ein hölzernes Instrument oder ein Werkzeug, mit Hilfe dessen diejenigen, die ihn besitzen dürfen, so etwas wie ein zusätzliches Sinnesorgan zu haben scheinen.
Nicht wahr? Die Augen, um im Raum zu sehen! Die Ohren, um den in der Zeit verklingenden Ton zu hören! Die Hand, um das Andere zu fühlen! Geruch und Geschmack, um das körperlich Wesen einer Sache in sich aufzunehmen! Das Denken schlussendlich dazu, allem auf diese Weise erfahrenen Geschehen einen Sinn zuzusprechen ... Jenen Stab aber, um die Unterscheidungen in Auge, Ohr, Nase, Hirn und Hand wieder zunichte zu machen, nachdem die einzelnen Sinne in uns solche Trennungen veranstaltet haben.
Du wirst also, wenn Du Dir einen solchen Stab zubereitest (und ich werde Dich in dieser Kunst der Reihe nach unterweisen), ein zusätzliches Sinnesorgan besitzen. Du fragst sicher, wie das gehen soll, da Dir doch kein neues Körperteil wachsen kann. Jedoch, lieber Freund: Tentakeln oder mesmerische Antennen oder Ähnliches brauchst Du mitnichten auch gar nicht. Denn das All selber wird in diesem Holzstabe Dein weiteres Sinnesorgan sein, da Du vermittels jenes Stabes an den Kosmos viel deutlicher angeschlossen sein und mit ihm verbunden sein wirst, als es ohnehin schon längst der Fall ist; – und dieses eben dadurch, weil Du zu einer bestimmten Zeit an einem Ort von einer Mutter geboren und vorher von einem Manne gezeugt worden bist.
Den Stab schneide Dir von einem Hasel- oder Weidenbusch. Er soll nicht zu derb, aber auch nicht zu fein sein. Er muss mindestens Deine Körpergröße ausstrecken und soll wenig Äste und Verbiegungen haben. Am Besten ist ein gerader und schlanker Stecken, welcher am Fuß bei zwei Zoll misst. Suche ihn Dir aus, aber schneide ihn erst dann ab, wenn der Mond genau über jenen Himmelspunkt fährt, welcher eben als Du das Licht der Welt erblicktest, im Osten aufstieg. Wir Astrologen nennen diesen Punkt den Ascendenten, wie Du es sicher erinnerst. Oder schneide den Stecken dann ab, wenn der im Moment der Ernte eben aufsteigende Punkt über genau die Stelle des Zodiaks eilt, an der der Mond zum Zeitpunkt Deiner Geburt geschienen hat. Oder die Sonne oder jener Planet, den man Herrscher des Zeichens nennt, das zu Deiner Geburt im Osten erschien, als Du Deine Lungen zum allerersten Schrei entfaltetest, die Hebamme ihr Dankgebet sprach und Deine Mutter vom Schmerze entlassen wurde.
Ich weiß ja, dass Du die alte Kunst der Sterndeutung aus den Büchern Schumanns noch erlernen wolltest, so dass es für Dich nicht schwer sein wird, jenen Zeitpunkt der Stockernte zu ermitteln. Nachdem Du dann aber den Stock abgeschnitten haben wirst, schäle die Rinde gleich vollständig von ihm ab, so dass der Stab ein anderes Aussehen erlangt als jene Stöcke, die man gewöhnlich für den Bau von Entengattern und Gartenzäunen ebenso aus Hasel- und Weidenbüschen schlägt. Wenn Du deinen Heroldsstab schön abgeschält und geglättet hast, magst Du ihn solange in die Ecke stellen, wie Du willst. Bis hin zu dem Tag, an dem Du die Kerben eingraben wirst, welches procedere ich Dir morgen beschreiben will. Denn im Augenblick klopft es an der Tür zu meinem Bibliothekszimmer und ich muss an dieser Stelle meinen Bericht und meine Anweisungen leider unterbrechen …

Bis bald, mon cher Uschmann!
S. A. Dankreither

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mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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