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der Kreis und die Linie
Leberecht Gottlieb (61)

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61. Kapitel, in welchem wir Leberecht im Rausch neuer Erkenntnisse antreffen und Beritha Kronmann aus Kairo mit Nachrichten eintrifft ...

Lieber Freund,
da war also ein von den Rambertimönchen abgesandter Bote an meiner Türe. Ich solle mich vor den Häschern der Jesuiten hüten, die - obschon vom Papst eben verboten - wegen des Heroldstabs und des Lapis Jagd auf mich machten. Nun gut - ich will Dir alles von diesem Geheimnis mitteilen, dann mögen sie mich fangen und in ihre Verliese verschleppen. Wenn Du das gesamte Mysterium von mir entdeckt bekommen hast, mein lieber Freund, ist es in Deinen Gedanken sicher aufbewahrt. Weiß ich doch, dass dort in Sachsen, wo Du Deine Pfarre einvernehmlich mit den Deinigen weiterhin führst, wie ich früher in Marzahna, keine Gefahr für Wissenschaft und Lehre droht.

Also - gleich will ich auf den Punkt und zur Sache kommen und Dir das Geheimnis der sieben Kerben in dem Stab entdecken. Zuerst aber will ich noch einige Bemerkungen darüber anfügen, was das Besondere des Heroldstabs, den andere vor uns auch „Edelstein Lapis Aquamarinus Knossius” genannt, überhaupt ausmacht. Auch ich habe zuerst nicht glauben können, dass dieser einfache Holzstab mit seinen Ringen aus Metall und Edelsteinen für uns Menschen tatsächlich zu so etwas Ähnlichem wie ein zusätzliches Sinnesorgan werden kann, mit Hilfe dessen wir alles, was wir sehen, hören und berühren, als Boten oder - wenn Du so willst sogar auch - als „Engel” verstehen könnten. Schließlich hatte ich mir diesen Stab ja selber nur erdacht … Und, kann man denn Engel erdichten und erdenken? Freilich, was überhaupt kann man schon selber bedenken! Denn wenn es etwas Großes wäre, dann hätte dieses Gedachte selbst denjenigen, durch den er gedacht wird - seinen Denker also - nur benutzt, um vermittels seiner in die Welt zu kommen. Es gibt ja bekanntlich auch noch viel mehr Musen als jene neun von Apollon geführten Schönen! Aber ich hatte damals diese eigenartige Jesusgeschichte in Schumanns Nachlass gelesen. Du weißt ja, wie sehr ich es seinerzeit liebte, die syrischen Anekdoten (woher sie auch immer stammen mochten) des Verblichenen ins Deutsche zu übertragen. Da gab es diesen Bericht, wo Christus vom Reifen und vom Stab spricht. Ich rufe Dir die sonderbare Erzählung am besten noch einmal in Erinnerung, so dass Du verstehen kannst, wie doch der Heroldstab alias „Lapis Aquamarinus etc.” eigentlich nichts anderes ist, als die Verwirklichung einer Nebenbei-Idee des Gottessohnes. Die Geschichte lautete etwa so:

“Wir beobachteten wieder jenen Knaben, der einen rollenden Reifen vor sich her trieb. Er hatte es dabei zu großer Kunstfertigkeit gebracht und war ganz versunken in sein Spiel. Wohl hatte er sich einen Haselstecken abgeschnitten, denselben in Wasser gelegt und dann die beiden Enden miteinander zum Kreis verbunden. Die Sonne ließ die so gekrümmte Rute ihre eigene Form annehmen und zum Rad werden.
Auch sahen wir den Großvater des Knaben, einen Greis mit rundem Rücken, der sich auf einen starken Stecken gestützt mühsam den Weg entlang schleppte. Der Knabe erfreute unser Herz, denn wir wurden an die eigene Kinderzeit erinnert. Der Greis dagegen jammerte alle, denn sein beklagenswertes Bild gemahnte an das unweigerliche Alter, das auch uns einmal ereilen würde.
Der Meister wies wortlos ins Gras, befahl, dass wir uns setzten und wir gehorchten ihm. Da tat er seinen Mund auf, rief den Greis samt dem Knaben ebenfalls herbei und begann uns zu lehren. Er sagte: “Wahrlich, wahrlich ich sage dir, wenn du alt geworden bist wie dein Großvater, wirst du dein Spielwerk, ich meine dieses dein Rad dort, wieder aufbinden und zum Stab werden lassen. Und so wird dir der Stab die wichtigsten Jahre deines Lebens über Stütze sein.” Ihn fragte jetzt der Knabe: “Wann wird das sein, Meister, und was sind denn die wichtigsten Jahre?” Er antwortete: “Siehe, die wichtigsten Jahre deines Lebens sind jene, in denen du das Gewicht der Zeit auf eine Weise spürst, dass du dich über ihre Last zu erheben sehnst, zugleich aber danach trachtest, sie noch lange tragen zu können. Dann nämlich sind diese Tage heran, wenn dein Rücken so rund ist wie jetzt dieser Reifen dort, und dein Wanderstab so gerade wie dein Rücken am heutigen Tag. Da lachte der Knabe, – aber dem Greis rannen Tränen aus den Augen.” Und die Geschichte endete folgendermaßen: “Wir schwiegen und dankten dem Meister für seine Worte.”

Diese Erzählung hat mich lange nicht Ruhe finden lassen und ich dachte immerzu daran, was geschehen würde, wenn man den kreisrunden Zodiakus am Himmel an irgendeiner Stelle “aufschneiden” würde. Wenn man den Tierkreis, durch den die Planeten mit Sonne und Mond rollen, an einer bestimmten Stelle auftrennte, so dass der Kreis zur Linie würde? Würde das Rad des Himmels nicht zum Stecken werden? Und genau das ist das Mysterium des Heroldstabes. Dieser nämlich ist nichts anderes als der an einer bestimmten Stelle aufgelöste Kreis der Sternbilder. Die Frage war für mich lange immer nur die eine: An welcher Stelle genau müsste die Bahn der Sonne und der Planeten aufgelöst werden? Und aus diesem Punkt ist der Heroldpunkt geworden, der zugleich Ende und Anfang des Stabes ist! Verstehst Du, mein Bester? Im Traum sah ich eines Nachts, wie ein klingender sphärischer Akkord den runden Sternenweg ganz leicht aufzulösen fähig war – und seinen Bogen zum Stab ausstreckte …
Morgen, mein guter Freund will ich Dir mehr über diesen besonderen Punkt berichten. Heute nur noch so viel: Es ist nicht der Ascendent oder das Medium Coeli, auf die unsere alten Vorbilder Ptolemaios, Placidus und Maternus so viel Wert legten. Es ist etwas ganz anderes. Und Du wirst etwas rechnen müssen ...

S.A.Dankreither,
Dein getreuer Freund aus der Heiligen Stadt

Als Leberecht mit der Lektüre bis hierher gekommen war, hörte er Schritte vor der Tür, es klopfte, er rief sein "Herein" und Beritha Kronmann stand in einem hellblauen Seidenkleid und orangenen Blüten im Haar auf der Schwelle zur Stube der toten Beschwörerin und trat ein. "Hübsch haben Sie es sich hier eingerichtet" meinte sie und schaute im Zimmer herum. Dann fügte sie hinzu: "Schwierige Nachrichten! Die Wahl in Dresden ist unentschieden ausgegangen. AFD und CDU sind mit Stimmen gleichauf. Beide bei 32. Die Linke hat 7, das Bündnis der Wagenknecht 8,2%. Die SPD hat es mit 5 gerade so geschafft. Grüne und FDP sind beide raus. Die Sonstigen liegen zusammen auf 6%. Damit ist ein absolutes Patt gegeben - und es wird Neuwahlen geben - bzw. irgendeine Minderheitsregierung bzw. Schwarz-Rot-Rot. Leberecht nimmt den Bericht zerstreut zur Kenntnis. Das alles regt ihn jetzt nicht mehr so auf, wie noch vor ein paar Stunden. Jetzt las man von ganz anderen Dingen, die weit über die Lokalpolitik der fernen Heimat hinaus gingen. Er las in der Originalhandschrift des  Johann Nepomuk Dankreithers von dem wahren und wahrhaftigen„Edelstein Lapis Aquamarinus Knossius.”

Leberecht bekam es gerade noch hin, sich bei Frau Kronmann für die Informationen aus dem sächsischen Landtag zu bedanken. Klagte ihr kurz sein Leid hinsichtlich des verloren gegangenen Passworts für sein Telefon und machte sich, als die nette Frau im blauen Kleid seine Hütte wieder verlassen hatte, an die Fortsetzung der Lektüre.

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mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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