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bei den Kopten
Leberecht Gottlieb (66)

Leberecht hat gut geschlafen, wir schreiben Samstag, den 7.September 2024. Der geistliche Mann hat viele Dinge zu bedenken. Da ist zum ersten die morgige Predigt. Anuschka Cohn wird seine Worte ins Syrisch-Arabische übertragen. Denn sie selber darf nicht predigen. Mulier taceat in ecclesiam. Ist zwar bitter … aber die Frau sagt, sie hätte in ihrem Leben genug gepredigt - meist vor leeren Bänken in irgendwelchen verfallenen Gotteshäusern der Anhaltischen Kirche, die noch nicht mal einen Bischof hat und darauf sogar noch stolz ist. Hier in Kairo bei den Kopten hat sie einen klar abgegrenzten Kompetenzbereich - aber um die Ecke herum gedacht eigentlich alle und alles in der Hand. Ihre theologischen Expertisen sind gefürchtet - damit hält sich die kleine Gemeinde wacker in dem brodelnden Umfeld magisch-orientalischer Religiosität. Seit langem ist hier kein Brüsewitz mehr mit Kanistern auf irgendwelche Obstkisten gestiegen, um den eigenen Worten auf diese oder noch deutlichere Weise Ausdruck zu verleihen. Also - diese Predigt ist das Erste. Dann will Leberecht im Lapisbuch Dankreithers weiterkommen, um sich endlich, endlich den geheimnisvollen Stab herstellen zu können. Warum das? Die Koalitionsverhandlungen in Dresden will Leberecht für sein sächsisches Heimatland günstig beeinflussen. Mit eisernem Stabe sozusagen wird er sie alle weiden! Frage - soll er nun zuerst die Predigt schreiben, oder im Lapis weiterlesen. Kurzerhand entscheidet er sich. Für Letzteres …

Lieber Freund in der Ferne des großen Raumzeit- und Sinnfeldes!
Der Küchenjunge wird Giovanni gerufen, genauso wie Du, Johannes. Ich hätte es mir denken müssen! Aber wir sind ja über das Denken hinaus immer darauf erpicht, das bloß Vermutete dann auch in der sogenannten “Wirklichkeit” tatsächlich bestätigt zu finden. Warum können wir das Gedachte für sich allein nicht auch als wirklich ansehen? Die Reduktion des Wirklichen auf das allein materiell Vorfindliche - das ist ein großer Fehler.

Ich will Dir den Knaben jetzt nicht näher ausmalen, ich will auch nicht weiter von unseren Gesängen berichten - ich will zur Beschreibung des Heroldstabes zurückkehren, den ich Heroldzweig zu nennen mich jetzt doch entschlossen habe. Zweig klingt besser als Stab. Ist der Stab etwas Strakes und Ungelenkes, ruft der Begriff Zweig eher etwas Lebendiges in mir wach. Ein bunter Zweig ist der Stab ja auch, wenn ich ihn anschaue, wie er mit seinen zehn farbigen Kerben, die ich für die sieben Planeten, den Ascendenten, das Medium Coeli und den Vertex eingegraben habe, vor mir liegt - dann lacht mein Herz. Ich habe mir auch mit Deinem Exemplar besonders viel Mühe gegeben, denn für den Mond habe ich einen schmalen Reif aus Silber, für den Merkur ein Band aus Amalgam, für die Venus natürlich das Kupfer, den Mars mit einem Eisenreif, Jupiter mit Zinn und Saturn mit dem lieben alten Blei – und die Sonne? Ich hatte noch etwas von Blattgold über, mit dem ich die Ecken meiner Buchumschläge zu verzieren gelernt habe. Ausgeschlagen! Mit diesem Wort will ich den anakoluthischen Satz beenden. Es hat große Freude gemacht und die Tierkreiszeichen sind in ihren Farben dargestellt, – leider dunkelt das Violett des Skorpions etwas nach, so dass es ins Purpurne zielt. Die Farben sind auch nicht mehr das, was sie früher mal waren. Dieser überall zu beobachtende Qualitätsverlust ist sehr zu beklagen. Damit der Stab seine Farben recht gut zeigen kann, habe ich ihn vor dem Farbauftrag mit mit Zinkweiß grundiert. Das Herstellen des Zweiges ist eine außerordentlich meditative Tätigkeit, nur unterbrochen von den Gesängen bei den Rambertimönchen und einem kleinen Mahl am Morgen, zu Mittag und am Abend gehören diese vier Tage zum Erlesensten, was ich als Arbeit habe bisher erleben dürfen.

Ich glaube, dass ich Dir noch gar nicht genau beschrieben habe, wie der Heroldpunkt nun genau berechnet wird? Zu deiner Erinnerung. Diesem Punkt entspricht kein materieller Körper am Sternenzelt, sondern dieser Punkt ist rein rechnerisch ermittelt. Deshalb kommt jeder dort oben kreisende Körper hin und wieder in seine Nähe oder affiziert ihn mit irgendeinem Winkelaspekt. Da ich keine große Lust habe, meine Briefe an Dich mir noch einmal mir genauer vorzunehmen, schreibe ich alles noch einmal kurz und im Wesentlichen auf, zumal mir beim Schreiben alles besonders klar wird und ich die Dinge beim Schreiben mit der Feder erst selber richtig zu begreifen scheine. Also, auf Dich, mein lieber Freund, angewendet: Der Herrscher von Löwe Haus 12 steht in 9, das vom Widder beherrscht wird. Also sehen wir uns den Mars als Herren des Widdrs an. Der steht in Haus 10, das vom Zwilling beherrscht wird. Also schauen wir auf den Gebieter des Zwillengs. Id est Merkurius, der steht in Haus 9 – hier schließt sich also der Kreis, denn der Herrscher von Haus 9 ist wieder der Mars. Mit dem Mars hebt sich eine kleine Melodie, ein Klasterakkord aus der ewig stöhnenden oder singenden, tönenden Sphärenmusik heraus und wiederholt sich als Kadenz immer wieder neu. Und diese Melodie bist Du, mein lieber Uschmann. Du bist Musik.

Weil nun immer jenes Haus, wo die Sonne steht, unbedingt auf Cis zu stimmen ist (Cis ist der Vater der Töne), lautet Deine Melodie so: b,cis,c,cis,c. Haus 12 ist b, Haus 9 ist cis, Haus 10 ist c, Haus 9 ist wieder cis und Haus 10, wo Dein Mars steht, eben erneut c. Du magst es gleich auf dem Cembalo anschlagen, oder auf einer Flöte Dir vorspielen, es wird auf jeden Fall eine beruhigende Wirkung auf Dich haben. Tat wam asi. Das bist Du selbst. Das Spielen entschädigt Dich auch von der tollen Rechnerei, die dem Ganzen natürlich vorangeht. Später in der Zukunft wird man sicher Rechenmaschinen erfunden haben, die diese Sisyphosarbeit für uns verrichten. Aber noch müssen wir uns selber anstrengen. Zeichne Dir alles auf Papier, sonst wirst Du wahnsinnig. Die Zahlen zermalmen einem den Verstand, wie Du weißt. Es ist Dir ja sicher sowieso klar, dass nur die Häuseranschauung unseres verehrten Placidus de Titis in Frage kommt? Und dazu alles nach Ptolemäischer Manier berechnet werden muss? So nämlich erst ist der Zeitfaktor neben dem Raumfaktor mehr berücksichtigt.

Nochmal das Ganze mit anderen Worten! Du siehst also auf die Spitze des 12. Hauses. Davon subtrahierst Du den Gradwert der Sonne. Danach den von Ares. Dann den von Merkur und noch einmal den von Mars. Diesen Wert hast Du? Das ist der Heroldpunkt. Dein Heroldpunkt. Er liegt auf? Na, mon cher, – hast Du es schon ausgerechnet? Negative Werte sind vom Frühlingspunkt an in Richtung des Tierkreises aufzutragen; wie wir es immer schon gemacht haben. Du wirst schon klar kommen. Morgen mehr, denn es ist spät, die Sterne gehen bereits aus ihren Kammern und die Nacht bricht herein.

Gott befohlen –
votre treshumble Dankreither.

Inzwischen ist es nun auch bei Leberecht Nacht geworden. Die Muezzine haben ihre unüberhörbaren Rufe von den Minaretten herabgeschrien und das kleine Glöckchen im Turm der Kapelle des Heiligen Christodoulos hat sanft zum Abend geläutet. Anuschka Cohn schaut herein und fragt, ob es die Predigt schon einmal zu lesen gäbe? Wenn ja, würde sie sich dieselbe gern erbeten - wegen der morgigen Übersetzertätigkeit. Leberecht muss verneinen und setzt sich gleich hin. Er verspricht, in einer Stunde den Text abgeliefert zu haben. Und schon beginnt er mit seiner feinen Schrift zuerst das Gleichnis von den Lilien auf dem Felde und den Vögeln unter dem Himmelszelt auf das Papier zu schreiben. Und dann geht es an die Auslegung dieses äußerst wichtigen Stücks. Davon soll im nächsten Beitrag etwas zu lesen sein.

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mehr von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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