der Zufall des Zufalls
Leberecht Gottlieb (70)
70. Kapitel, in welchem wir den 12. September des Jahres 2024 schreiben und den emeritierten Pfarrer Leberecht Gottlieb aus Dresden im sächsischen Lande sehen, wie derselbe bei einer Bushaltestelle in der Wüste fern der Stadt Kairo steht und plant, allein und nur gemeinsam mit seinem Köfferchen und dem bunten Heroldsstab nach Jerusalem zu reisen. Ein Kapitel, was vor den Schwierigkeiten warnt, die manchmal der sogenannte Zufall uns zumutet ...
Was eigentlich alles war bisher passiert? Hier für den vergesslichen und ungetreuen Leser eine kurze Zusammenfassung. Also - Leberecht Gottlieb hatte vor Jahrzehnten damit begonnen, so etwas wie eine Biographie zu schreiben. Das heißt - als junger Mann bereits schrieb er einfach darauf los, um festzuhalten, was man alles bisher erleben durfte. Bei diesen Sachen nun handelte es sich um die eigenen Kindheitstage sowieso, das spätere lange Theologiestudium, auch um süße Rachegeschichten für und gegen die ehemaligen Lehrer in der DDR (Deutsche Demokratische Republik), es ging um fiktive Reisen hinab zu finstersten Bezirken der sogenannten Hölle, dann um etwa vierzig Jahre Pfarrdienst in verschiedenen sächsischen Landgemeinden, danach noch einmal für rund zehn Jahre als Emeritus. Jetzt schloss sich die Zeit als Pensionär in Tübingen der Schilderung an, mit dem Hinauswurf aus dem dortigen Altersheim, die fröhliche Rückkehr nach Dresden ins Heim Abendsonnenfrieden. Wie das alte Thema des Zufalls, sonderlich in verbindung mit den Singularitäten um Schrödingers Katze vermittels einer Straßenbahn auftaucht - und es von dort aus mysteriös zu werden beginnt. An einem Wahlkampfstand der AfD gewinnt unser verehrter Emeritus eine Pauschal-Reise nach Ägypten hin zu den Urwurzeln der Religion. Dort allerdings im magischen Lande am Nilstrom hatte sich unser reisender Pfarrherr vertan, seine Reisegruppe verloren und war in der Orakeloase Siwa gelandet. Er wohnte daselbst dem Tod einer - was heißt einer - der!!! Totenbeschwörerin an sich bei, auch deren Begräbnisfeierlichkeiten, konnte dabei allerlei nette Bekanntschaften schließen und im Heiligtum der entschlafenen Nachfahrin derer von Endor ein umfangreicheres Exemplar seiner seit Jugendzeiten geliebten Schrift Samuel Dankreithers auffinden, welche Schrift zur Anfertigung eines bestimmten Instruments geheime Winke gibt, das sein Erfinder „Heroldstab” nennen wollte. Es scheint so zu sein, dass alles das, was Leberecht je aufschrieb und in Büchern liest, sich in die Wirklichkeit schwingt und dann auch in abgewandelter Form strukturell gleich irgendwie auch geschieht. Leberecht Gottlieb fertigte sich in Kairo, nachdem er zuerst bei den Miaphysiten eine wunderbare Predigt gehalten, diesen Stab selber an - durfte aber der Länge des Stabes wegen das Flugzeug nach Jerusalem nicht besteigen, in welcher Stadt er das Kloster der Rambertianermönche auffinden wollte, die dem Erfinder des Stabes seinerzeit Obdach gewährt hatten. Leberechts auf der Reise „durch Zufall” gewonnener chinesischer Freund und I-Ging-Experte Ziang dagegen war jedoch seinem Kameraden Gottlieb schon einmal voraus geflogen. Man wollte sich an der Klagemauer treffen - und zwar genau am Tag der Kreuzerhöhung, dem 14.September. Es galt also nicht zu säumen -
Jerusalem lag wiederum etwa 700 Kilometer nördlich entfernt - und da kam auch schon der Bus heran gebraust. Es handelte sich um die Linie 444 Kairo-Jerusalem und man ging über Eilat am Golf von Akaba bis zur religiös so hart umkämpften Stadt des Friedens. Der Bus war ein alter Greyhound, den man wohl aus den Staaten hierher gebracht, überholt und neu angestrichen hatte. Die Farbe war sandgelb, so dass Leberecht eigentlich keinen Unterschied zwischen Bus und Umgebung ausmachen konnte, als das brummende Ungetüm zum ersten Mal mitten in der Wüste anhielt, um die Passagiere sich für eine Pinkelpause in der Wüste zerstreuen zu lassen. Das Herumliegen von Papier war nicht zu beobachten, weil ein dermaßen heftiger Wind wehte, der auch schwerer gewordene Papierblätter in sausender Geschwindingkeit in die Weiten der Sinaihalbinsel verweht haben würde und wohl auch verweht hatte. Leberecht stieg in den Bus wieder ein. Oh Schreck! Hatte er doch draußen seinen Stab und sein Köfferchen vergessen, die er beide - er ist trotz seines christlichen Glaubens ein ängstlicher Mensch geblieben - mit sich aus dem Bus geführt. "Im Orient nichts unbeaufsichtigt stehen lassen", warnte der AfD-Reiseflyer, den Leberecht gelangweilt überflogen hatte. Aber solche Sätze bleiben hängen. Die merkt man sich. "Diese Leute mögen wohl leider Recht haben", sagte unser Pfarrer bei sich selbst. Schnell stürzte er wieder hinaus aus dem Omnibus und wandte sich um, wo seine beiden Sachen ständen oder lägen. "Wo nur legte ich sie ab? Wohin soll ich mich wenden? Ach - dort sind sie." Leberecht schnappt sich beides, Dreht sich im Kreise - der Bus ist weg. Wo ist der Bus.
Der sandgelbe Greyhound ist ohne den verehrten Pfarrgast abgefahren. In einer Staubwolke macht er sich davon, wie seinerzeit der Wagen Elias. Und der Emeritus steht nun mutterseelenallein in der Wüste. Wie damals Hagar mit dem kleinen Ismael - so der alte weiße Mann heute mit dem Köfferchen. Aber da ist ja noch der Stab! Wenn denn dieser Stab wirklich jenes Mittel darstellt, das den Zufall zu instrumentalisieren vermag, dann wäre ja überhaupt keine Not. Und außerdem - man zählt selber bei fast neunzig Jahren. Und am Rande des Heiligen Landes für immer zu erblassen, wie seinerzeit schon Mose auf dem Berge Necho - das wäre keine Blamage, denkt sich Leberecht. Aber es sollte anders kommen …
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